Ein Rennen steht noch aus, dann ist diese herausragende Saison für ihn beendet. Marco Odermatt, 24, wird am Samstag den letzten Riesenslalom des Winters bestreiten. Er ist der Dominator der Basisdisziplin, er hat die kleine Kristallkugel auf sicher und er wurde Olympiasieger.
In den Speeddisziplinen machte er Fortschritte, die ihm selbst Experten nicht zugetraut hätten. In den Abfahrten von Wengen und Kitzbühel schaffte er es erstmals in die Top 3. Die grosse Kristallkugel ist ihm seit letztem Mittwoch auch rechnerisch nicht mehr zu nehmen. Der Nidwaldner ist der erste Schweizer Gesamtweltcupsieger seit Carlo Janka 2010.
Am 29. Februar 2016 schreibt Marco Odermatt aus dem fernen Sotschi eine SMS an die Redaktion: «Braucht ihr noch Bilder von mir?» Odermatt, 18-jährig, hat Stunden zuvor bei der Junioren-WM in Russland die Bronzemedaille im Super-G gewonnen. Er steht erstmals im Scheinwerferlicht, darum ist das Bildarchiv der Zeitung so leer. Um die Medienarbeit kümmert er sich selbst, nach dem Rennen autorisiert er Zitate. «Text ist tipptopp», schreibt er, er will nichts ändern.
Beat Tschuor, der damalige Nachwuchschef und heutige Frauen-Cheftrainer, ist wenig überrascht über den Erfolg. «Es hat sich abgezeichnet, dass Marco vorne mitfahren kann», sagt der Bündner. Der Riesenslalom steht erst noch bevor. «Da gehöre ich aber nicht zum Favoritenkreis», sagt Odermatt und gewinnt drei Tage später trotzdem die Goldmedaille.
Als er in Zürich-Kloten ankommt, erlebt er seinen ersten Empfang am Flughafen und ist «überwältigt». Die erfolgreiche Junioren-WM bringt ihm kein Preisgeld ein. Dafür darf er im März 2016 beim Saisonfinale in St. Moritz starten. «Vor einem Jahr war der Weltcup so weit entfernt wie der Mond», sagt er. «Jetzt stehe ich schon bald neben diesen Superstars am Start. Das ist einfach fantastisch.»
Es ist der 24. Januar 2017 und die Nachricht von Marco Odermatt nicht so toll. «Die OP ist nun durch, ich bin zuhause. Hätte also Zeit.» Dazu ein Smiley, das sich auf die Zähne beisst. Zwei Tage später sagt er im Elternhaus in Buochs: «Bei mir ging es bisher eigentlich immer steil nach oben.» Jetzt bekommt die Kurve einen leichten Knick. Nur wegen einem Allerweltsausfall in einem Europacuprennen in Val d'Isère.
Ein «Stürzli» nennt es Odermatt. Der Meniskus im linken Knie ist kaputt. Er liegt auf der Couch, später wechselt er an den Küchentisch. Die Laune will aber nicht so recht zur Verletzung passen. «Jetzt habe ich Zeit für Dinge, die ich sonst hätte vernachlässigen müssen», sagt er. Die Heim-WM von St. Moritz, die in wenigen Tagen startet, wird er verpassen. Odermatt aber, 19-jährig, zuckt mit den Schultern. «In zwei Jahren ist wieder eine WM. Dann bin ich immer noch jung.»
Gold, Gold, Gold, Gold, Gold. Im Januar 2018 wird auch für den Laien greifbar, dass dieser junge Nidwaldner wohl tatsächlich ein spezieller Typ ist. Bei der Junioren-WM in Davos gewinnt Marco Odermatt fünfmal die Goldmedaille. Die Euphorie ergreift die Medienlandschaft. «Marco magisch» titelt der Blick.
Daniel Albrecht, einst selbst Junioren-Weltmeister wagt eine Prognose. «Bleibt er gesund, wird er sicher auch im Weltcup Ausrufezeichen setzen.» Odermatt schütteln die verrückten Tage von Davos nicht durch. «Es ist extrem schön. Aber es ist ?nur? eine Junioren-WM», sagt er. Erstmals drängen sich die Vergleiche mit den grossen Namen der Branche auf. Odermatt hat nun zusammengezählt mehr Siege an einer Junioren-WM als Marcel Hirscher, als Benjamin Raich, als Beat Feuz.
Zum Empfang in der Heimatgemeinde Buochs kommen 800 Leute, obwohl die Fasnacht läuft und das Wetter schlecht ist. Vater Walti Odermatt dämpft ein erstes Mal die Euphorie. Er sagt beim Anlass: «Marco war nicht immer ein Überflieger. Lange hatte er stärkere und schnellere Fahrer vor sich.»
Die Episode wurde oft nacherzählt, aber sie altert gut. Im Januar 2019 verteilt Marcel Hirscher, der Jahr für Jahr alles in Grund und Boden fährt, dem Schweizer TV-Publikum Blumen. Nach Marco Odermatt gefragt sagt Hirscher, «er kann Gesamtweltcupsieger werden, Olympiasieger - und was er alles möchte». Die österreichische Legende verneigt sich vor dem Schweizer Shootingstar, die helvetische Skiseele ist einbalsamiert.
Die Nation sitzt eingelullt auf dem Sofa, als Walti Odermatt in der grössten TV-Sportsendung des Landes den Sinn für die Realität schärft. «Das sind natürlich blöde Worte. Wenn man weiss, wie schmal der Grat ist, sind das die falschen Ausdrücke.» Im Boulevard heisst es, der Odermatt-Vater habe den Hirscher «attackiert». Andrea Ellenberger, Weltcupfahrerin und Hergiswiler Klubkollegin sagt: «Wer Walti kennt, der weiss: Er will, dass Marco auf dem Boden bleibt.»
Anfang März 2019. Zwei Monate sind seit den «blöden Worten» von Hirscher vergangen. Die Prophezeiungen scheinen sich bereits ein Stück weit zu erfüllen. Marco Odermatt steht erstmals auf dem Podest im Weltcup. Im Riesenslalom von Kranjska Gora wird er Dritter. Per SMS ist er nicht mehr so leicht zu erreichen. Das Interesse an seiner Person steigt in dieser Saison enorm, er ist jetzt ein Star. Längst gibt es einen Manager, der ihm die Kommunikation regelt und die Sponsorenverträge reinholt.
Der monetäre Wert des ersten Podestplatzes ist verhältnismässig gering. Das erstaunt Odermatt ein wenig. Ende Saison sagt er: «Nach dem Podestplatz von Kranjska Gora dachte ich, ich sei ein ?Siebesiech?. Aber ich bekam 7000 Franken. Wenn ich das mit den Preisgeldern im Tennis vergleiche, sind das Welten.»
Mittlerweile ist er zum Grossverdiener geworden. Vor seinem letzten Rennen steht er in dieser Saison bei einer Preisgeldsumme von 520'445 Franken. Allein die Partnerschaft mit Red Bull bringe ihm zudem jährlich einen sechsstelligen Betrag ein, heisst es.
Marco Odermatt arbeitet mit einer To-Do-Liste. Am 8. Januar 2022 kann er den Sieg bei einem grossen Klassiker des Weltcups abhaken. Er gewinnt den Riesenslalom von Adelboden, es ist der erste Schweizer Sieg seit dem Triumph von Marc Berthod 2008. Berthod sagt, er könne sich keinen würdigeren Nachfolger als Odermatt vorstellen. Seine Technik sei perfekt, «aber die grosse Differenz macht er im Kopf», sagt er in der Berner Zeitung.
Odermatt geht als Führender in den zweiten Lauf. Auf dem Sessellift hoch zum Chuenisbärgli kommen ihm die Tränen. Er realisiert, wie nahe die Erfüllung des Kindheitstraumes ist. Zu diesem Zeitpunkt der Saison befindet er sich längst in einem Rausch. In Adelboden gelingt ihm der grosse Triumph, er wird gefeiert wie ein Rockstar. Eine Woche später gewinnt er den Super-G von Wengen, in der Lauberhornabfahrt wird er Zweiter.
«Er ist ein Jahrhundert-Talent», sagt der Deutsche Josef Ferstl. «Ein wenig lästig ist er, immer gewinnt er», sagt Aleksander Kilde. Kilde kann Odermatt in der Gesamtwertung auf den Fersen bleiben. Doch am Ende der Saison wird der Schweizer auf seiner To-Do-Liste auch die grosse Kristallkugel abhaken. (aargauerzeitung.ch)