Herr Brülhart, wenn Sie der Schweizer Wirtschaft ein Gesundheitsattest schreiben müssten, wie würde das aussehen?
Marius Brülhart: Der Einkommensrückgang für dieses Jahr wird auf vier Prozent geschätzt. Das ist zwar im historischen Vergleich ein riesiger Einbruch. Wir erlebten in den letzten Jahrzehnten aber auch eine starke Wachstumsphase. Die Schweizer Wirtschaft erweist sich deshalb als erstaunlich resilient.
Heute will der Bundesrat weitere Massnahmen im Kampf gegen die steigenden Fallzahlen kommunizieren. Wäre für die Schweizer Wirtschaft ein Lockdown verheerender als ein «Slowdown» mit sehr strengen Massnahmen?
Das Verheerendste für die Wirtschaft ist das Virus, das grassiert. Steigende Todeszahlen und immer mehr Menschen, die in Quarantäne müssen, schaden der Wirtschaft am meisten. Das hält die Leute von der Arbeit fern und hemmt den Konsum.
Würde sich ein zweiwöchiger Mini-Lockdown lohnen? Die Fallzahlen würden womöglich sinken, die Wirtschaft könnte nach zwei Wochen aber wieder hochgefahren werden.
Möglicherweise wäre das kurzfristig das kleinere Übel. Ein solcher Circuit-Breaker ist aber kaum nachhaltig. Womöglich schafft man es, den exponentiellen Anstieg der Fallzahlen zu stoppen. Wer dann aber denkt, dass nach zwei Wochen wieder «Business as usual» herrscht, der irrt sich. Man müsste mit einem Jojo-Effekt rechnen, wenn alles nach zwei Wochen ohne Massnahmen wieder geöffnet würde.
Sie sind Teil der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes. Halten Sie einfach die schützende Hand über die Wirtschaft und warnen vor strengen Massnahmen?
Gesundheit und Wirtschaft hängen sehr eng miteinander zusammen. Solange das Virus grassiert, kann die Wirtschaft nicht florieren. Ein wirtschaftlicher Lockdown ist nicht per se des Teufels. Das sieht man auch am Beispiel Schweden. Die Regierung hat im Frühjahr weniger strenge Massnahmen erlassen und keinen Lockdown verhängt. Der Wirtschaftseinbruch war aber ziemlich genau der gleiche wie in Ländern mit Lockdown. Schweden hat also auf wirtschaftlicher Ebene nichts gewonnen und auf der gesundheitlichen viel verloren.
Dann helfen strengere Massnahmen der Wirtschaft sogar?
In Phasen, wo sich das Virus exponentiell verbreitet, insgesamt schon. Man sollte die verschiedenen Massnahmen aber immer differenziert betrachten. Es geht stets um eine Kosten-Nutzen-Abschätzung. Wie viel bringt eine Massnahme epidemiologisch gesehen und wie viel schadet sie der Wirtschaft? Bei vielen Massnahmen sind wir uns mit den Epidemiologinnen und Virologen einig. Eine Maskenpflicht beispielsweise bringt wirtschaftlich gesehen kaum Einbussen, sie kann womöglich sogar helfen, den Konsum wieder anzukurbeln, weil sich die Leute wieder eher in die Geschäfte trauen. Auch in den Ausbau von Tests und Contact-Tracing zu investieren, ist sehr wirksam. Das kostet zwar den Staat einiges an Geld, gesamtwirtschaftlich betrachtet ist es aber eine sehr sinnvolle Investition.
Bei welchen Massnahmen sind Sie sich denn mit den Epidemiologinnen uneinig?
Die Reisequarantäne betrachten wir vielleicht etwas kritischer. Dass alle Menschen, die aus Risikoländern in die Schweiz einreisen, zehn Tage in Quarantäne müssen, ist nicht sehr zielgenau. Erstens scheint der Anteil an Neuinfektionen aufgrund von Reisenden nicht enorm hoch, zweitens kostet es ökonomisch einiges, weil viele Arbeitnehmende nicht einfach von zu Hause aus arbeiten können und die Reisebranche grosse Einbussen hinnehmen muss.
Als wie sinnvoll bewerten Sie die Sperrstunde ab 22 Uhr für Gastrobetriebe?
Mit später Stunde und steigendem Alkoholpegel gehen Distanz- und Hygienemassnahmen wohl eher vergessen. Mit diesem Argument im Hinterkopf ist die Massnahme sicher sinnvoll. Wirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich scheinen die Kosten allerdings grösser als bei einer Maskentragepflicht.
Konjunkturexperten geben sich bezüglich der Auswirkungen der Coronakrise auf die Wirtschaft optimistischer als auch schon. Der vermutete Rückgang des Bruttoinlandproduktes (BIP) wurde von minus 5,0 auf 4,2 Prozent korrigiert. Woran liegt das?
Die Konkurswelle ist zumindest bis jetzt noch nicht so gross wie anfangs erwartet. Man kann davon ausgehen, dass viele für die Wirtschaft getroffenen Massnahmen geholfen haben. Die Kurzarbeit und die Corona-Erwerbsersatzgelder an Selbstständige waren sicherlich effektive Hilfestellungen. Offenbar sind auch viele Schweizer Unternehmen widerstandsfähiger als von den Ökonomen erwartet. Viele haben womöglich ein Polster gehabt und konnten sich auch nach einer mehrmonatigen Durststrecke über Wasser halten.
Die Fallzahlen steigen rasant an, es sind erneut strengere Massnahmen geplant, die Durststrecke ist wohl noch nicht vorbei.
Wenn es wirklich noch monatelang so weiter geht und die Corona-Massnahmen über längere Zeit streng bleiben, dann werden viele Firmen ihre Schmerzgrenze erreichen. Das Schlimmste scheint leider noch nicht vorbei zu sein. Irgendwann wird man auch an den Punkt kommen, wo es für ein Unternehmen nicht mehr viel Sinn macht, die Mitarbeitenden ewig in Kurzarbeit verharren zu lassen. Wichtig wird dann vor allem sein, ob man für die Arbeitnehmenden aus den besonders betroffenen Branchen andere Arbeitsplätze findet. Die zunehmende Digitalisierung im Gesundheitsbereich schafft womöglich neue Arbeitsplätze. Doch ich bin mir unsicher, ob das reichen wird.
Unternehmen können derzeit keine Notkredite und Überbrückungshilfen mehr beantragen. Die Massnahme lief Ende Sommer aus. Hat der Bund überhaupt genügend Geld, um eine weitere Finanzierungsrunde zu starten?
Wir haben noch sehr viel fiskalische Munition, um die Wirtschaft zu stützen. Es bräuchte viele Jahre Pandemie, bis die Staatsfinanzen ans Limit kämen. Wenn das Haus brennt, ist nicht der Moment, um Wasser zu sparen.
Angenommen, wir schaffen es, die zweite Welle zu brechen und die Fallzahlen einzudämmen. Wie lange würde es dauern, bis sich die Schweizer Wirtschaft wieder auf dem Vor-Corona-Niveau befände?
Dazu gibt es verschiedene Szenarien. Der Schuldenberg im öffentlichen Bereich ist kein Problem, da haben wir einiges an Reserven. Im privaten Bereich könnte es schwieriger werden, weil viele Unternehmen Polster abgebaut haben und Überbrückungshilfen abstottern müssen. Das hat auch einen Einfluss auf den Investitionswillen. Deshalb fordern auch einige Ökonomen, dass gewisse Kredite erlassen werden. Andererseits ist jedoch auch zu erwarten, dass sehr viel angestaute Nachfrage freigelassen wird. Viele Leute müssen unfreiwillig sparen und auf einiges verzichten, weshalb eine Normalisierung der Lage zu mehr Konsum führen dürfte. Wir freuen uns alle darauf, wieder zu feiern und zu reisen. Aber leider scheint der Zeitpunkt dafür noch in einiger Ferne.
Das ist doch das zentrale Problem; "Business as usual" wird alle Bemühungen killen.
Seit März sind die wichtigen Massnahmen bekannt und wer diese bis heute gut eingehalten hat, der konnte ordentlich gut leben ohne grosse Einbussen an Freiheit, aber eben man musste sich mit diesen Massnahmen arrangieren.
Ich habe mich im Sommer immer wieder gefragt, ob nicht ein Teil der Bevölkerung den Virus bereits vergessen hat und das rächt sich nun heute.
Es ist wichtig, dass die Stimmen der Ökonomen gehört werden, die fast allesamt das gleiche sagen: Wir können die Wirtschaft nur schützen, indem wir uns vor der Pandemie schützen. Diejenigen "Experten" die etwas Anderes sagen, sind häufig weniger Ökonomen, die das gesamtwirtschaftliche Wohlergehen im Auge haben als mehr Interessenvertreter von einzelnen Branchen. Ich bin froh, wenn diese beiden Dinge nicht verwechselt werden!