Die Mär vom ach so tollen Atomstrom aus Frankreich
Anfang der 70er-Jahre fristete die zivile Atomenergie in Frankreich ein Nischendasein. Nicht einmal ein Zehntel des französischen Stroms stammte aus einer Kernkraftanlage. Dann kam Pierre Messmer. Als französischer Verteidigungsminister spielte er im Krieg zwischen Nigeria und Biafra (1967–1970) keine unwesentliche Rolle.
In der Hoffnung, in der erdölreichen Region des Nigerdeltas mehr Einfluss zu gewinnen, hatte sich Frankreich auf die Seite von Biafra geschlagen und die Rebellen mit Waffen unterstützt. Doch mit der Niederlage Biafras gingen Frankreichs Pläne in Rauch auf – und in Messmer wuchs die Überzeugung, La Grande Nation müsse sich bezüglich Energie endgültig aus der fremdländischen Abhängigkeit manövrieren.
Zwei Jahre später (1972) ernannte Staatspräsident Pompidou Messmer zum Premierminister. Sogleich nahm sich dieser des Ausbaus der französischen Atomenergie an – der sogenannte Messmer-Plan war geboren.
Weitere zwei Jahre später (1974) baute Frankreich bereits sechs neue Atomkraftwerke. Und das waren erst die Vorboten der Lawine. 1975 explodierte der Zubau so richtig. Für ganze neun Reaktoren an drei verschiedenen Standorten (Dampierre, Gravelines, Tricastin) wurde der Grundstein gelegt. Der französische Atom-Kraftakt dauerte über ein Jahrzehnt. Zwischen 1972 bis 1985 verging kein Jahr, in dem Frankreich nicht mindestens ein neues Atomkraftwerk baute.
Der Rekord von neun Meilern im Jahr 1975 wurde 1979 noch einmal wiederholt. In der besagten Zeitspanne realisierte Frankreich 55 neue Atomkraftwerke. Als Betreiberin des AKW-Parks hielt EDF (Électricité de France) den Status einer sogenannten EPIC (Établissement public à caractère industriel et commercial) – eine öffentliche Einrichtung industrieller und kommerzieller Art. Sie wurde vom Staat finanziert und lockte mit hervorragenden Sozialleistungen und Löhnen. Auch hier liess sich der Staat nicht lumpen.
Sätmliche AKWS aus dieser Zeit sind noch in Betrieb – ausser einem. Die Anlage Superphénix in Creys-Mépieu wurde ihrem Namen nie gerecht. Nach diversen Störfällen – 1990 war beispielsweise die Decke der Turbinenhalle wegen zu viel Schnee eingestürzt –, wurden beim schnellen Brüter nach nur 10 Jahren am Netz bereits 1998 die Lichter endgültig gelöscht. Die Anlage hatte viel Kosten und wenig Strom produziert. Komplett abgebaut ist sie bis heute nicht. 2027, fast dreissig Jahre nach Stilllegung, soll es so weit sein. Dass der Zeitplan eingehalten wird, erscheint unrealistisch. Nicht nur, weil sämtliche Atomprojekte der letzten Jahre wesentlich länger dauerten als geplant. Die Akte Superphénix dürfte in Anbetracht des französischen Problembergs nach hinten verschoben werden.
Oberste Priorität geniesst in Frankreich der Erhalt der Energiesouveränität. Das betonte der angeschlagene Staatspräsident Macron erst kürzlich. Doch diese ist, trotz – oder eben wegen – der AKW-Abhängigkeit, in Gefahr. Noch immer setzt Frankreich auf Atomstrom, der 2003 für über 73 Prozent des Verbrauchs aufkam. Doch die Quote sinkt.
2022 musste zum ersten Mal in der Geschichte Strom zugekauft werden, weil phasenweise mehr als die Hälfte der (damals) 56 Meiler gewartet werden musste. Der Grund: Diverse Schäden und Mängel an den in die Jahre gekommenen AKWs. Allein die Instandhaltung des alten Parks wird in den nächsten 10 Jahren mindestens 100 Milliarden Euro verschlingen. Dafür aufkommen muss die EDF. Im Zuge der Eingliederung in den europäischen Strommarkt war die EPIC 2004 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden. 2005 erfolgte der Börsengang. Doch der Geist einer französischen Staatsinstitution mit einer Laissez-faire-Buchhaltung ohne ersichtliche Kostenkontrolle blieb. Die Aktionäre freute es nicht. Der Kurs von EDF fiel von 86 (2007) auf 14 Euro (2012). Wer 10’000 Euro investiert hatte, besass nur noch 1600.
Wie die EDF plant und wirtschaftet, zeigt der Bau des dritten Reaktors in Flamanville. 2007 war der Spatenstich. Beendet wurde er statt 2012 erst 2024 – zwölf Jahre später. Auch die Kosten liefen aus dem Ruder. Aus geplanten 3,3 Milliarden wurden 23,7 Milliarden. Der Preis hatte sich versiebenfacht. Und weil bereits Probleme beim Stahl entdeckt wurden, muss Flamanville 3 für Renovationsarbeiten bald schon wieder vom Netz genommen werden. Dass beim Bau desselben Reaktortyps bereits im finnischen Olkiluoto Schwierigkeiten auftraten, hatte EDF ignoriert.
Ein ähnliches Debakel leistete sich EDF im englischen Hinkley Point. Obwohl nur ein gesicherter Abnahmepreis und staatliche Subventionen das Projekt wirtschaftlich ertragreich machen, bewarb sich EDF für den Bau zweier Reaktoren. Anfänglich mit 19 Milliarden budgetiert, wird das Projekt jenseits von 40 Milliarden kosten. Nach einer Reihe von Verzögerungen wird der Bau frühestens 2029 beendet.
Neben den Misserfolgen leistete sich EDF für seine MitarbeiterInnen weiterhin ein Rentenalter von 59 Jahren – bei einer 35-Stunden-Woche. Die durchschnittlich fast 3200 Euro pro PensionärIn werden in Frankreich mit einer Sondersteuer bezahlt. Kein Wunder also, häufte EDF immer mehr Schulden an. 2020 waren es 41 Milliarden, 2022 resultierte mit 17,9 Milliarden Euro der grösste Jahresverlust. Bei einer Schuldenlast von 68 Milliarden Euro zog die Regierung 2023 die Reissleine und verstaatlichte die EDF erneut. Die restlichen Aktien in Privatbesitz – viele waren es nicht mehr – wurden für 10 Milliarden übernommen.
Seither hat sich einiges getan. Rund 20 Milliarden Schulden konnten abgebaut werden. Viele Probleme bleiben – und neue kommen dazu: Wegen Hitzewellen und zu warmer Flüsse, die für die Kühlung der Stromerzeuger genutzt werden, mussten in den vergangenen Jahren immer mehr AKWs zwischenzeitlich vom Netz genommen werden. Und auch die meerwassergekühlten bleiben von natürlichen Hindernissen nicht verschont. In Gravelines verstopfte ein Quallenschwarm die Kühlwasserfilter des Atomkraftwerks, sodass die gesamte Anlage stillgelegt werden musste. Übrigens: Aktuell steht auch das AKW Gösgen still. Laut SRF wurde festgestellt, dass «gewisse Teile der Anlage technisch nachgerüstet werden müssen». Dies alles «ausserplanmässig».
Zurück zu Frankreich: Das Land mit 3,3 Billionen Euro Schulden steckt mitten in einer Schulden- und Politkrise, die ganz Europa treffen könnte. Trotzdem hat es angekündigt, in den nächsten Jahren mindestens sechs neue Atomreaktoren zu bauen. Budgetiert dafür sind 51 bis 56 Milliarden Euro. Das entspricht 7 bis 8 Milliarden Euro pro Reaktor – ein Bruchteil davon, was die letzten Projekte kosteten.
Sich auch in Zukunft so extrem auf Atomstrom zu verlassen, das will man dann aber doch nicht. Vor allem Offshore-Wind wird gefördert. Das geht schneller, unproblematischer und produziert den aktuell günstigsten Strom. Das ist nötig. Denn was lange undenkbar war, passiert seit einigen Jahren: Frankreich erhöht den staatlich vorgeschriebenen Fixpreis und führt ein neues Preissystem ein. Wie das genau funktioniert, ist nicht in allen Fällen transparent. Experten vermuten bereits verdeckte Subventionen für den altersschwachen AKW-Park. Und die Strompreise steigen.