Kurz vor den Australian Open liess er seinen Schalk aufblitzen, als er sich mit dem Norman Brookes Challenge Cup fotografieren liess und dazu schrieb: «So nahe komme ich dem Pokal nie mehr.» Andy Murray, der fünffache Finalist, wusste es schon da. Er wusste, dass das Ende seiner Karriere nahe ist. Eine Karriere, die ihm drei Grand-Slam-Titel, zwei olympische Goldmedaillen, und 41 Wochen an der Spitze der Weltrangliste gebracht hatte.
Als er am Freitag vor die Medien tritt, bricht ihm bei der ersten Frage, der Frage, wie sich seine Hüfte anfühle, die Stimme. «Nicht gut», sagt der 31-Jährige. Tränen kullern über die Wangen. Für mehrere Minuten zieht er sich in einen Nebenraum zurück. Dann erklärt er sich. «Ich habe seit zwanzig Monaten grosse Schmerzen.» Er habe alles unternommen, nichts habe geholfen. Auch die Operation im Sommer 2017 brachte nicht die erhoffte Linderung.
Längst geht es nicht mehr um die Rückkehr an die Weltspitze. Es geht um sehr viel Banaleres. «Dass ich ohne Schmerzen Socken anziehen kann und die Schuhe binden», sagt Murray. «Ein Leben ohne Schmerzen, mit einer guten Lebensqualität.» Er habe im Dezember seinem Team gesagt, dass er so nicht weitermachen könne. Spätestens in Wimbledon wird er seine Karriere beenden, «doch ich bin nicht sicher, ob ich es mit diesen Schmerzen bis dahin schaffen».
In Australien spielt er, aber weit vom Niveau entfernt, das er sich wünscht. Er brauchte einen Schlusspunkt, es musste Wimbledon sein. «Dort, wo alles begann, soll es auch enden.» Auch eine weitere Operation schliesst er nicht aus, sie soll ihm das bringen, was ihm in Zukunft am meisten über den Verlust des Tennis als Lebensinhalt hinweg helfen soll: Schmerzfreiheit und Mobilität für seine Kinder Edie und Sophia Olivia. «Aber es gibt keine Garantie, dass es hilft.»
In Washington gewann Murray praktisch vor leeren Rängen eine Achtelfinal-Partie, es war bereits weit nach 03.00 Uhr in der Nacht. Danach brach er in Tränen aus, so viel bedeutet ihm der Sport. Vielleicht aber auch, weil der Sieg im Schmerz geboren war. Tags darauf zog er sich aus dem Turnier zurück. Es ist das, was von ihm als Athlet in Erinnerung bleiben wird. Totale Hingabe für den Sport, der ihm auch half, das Trauma seiner Kindheit hinter sich zu lassen.
Es war im März 1996, als er in der Grundschule von Dunblane als 8-Jähriger ein Massaker miterlebte, bei dem ein 43-jähriger Mann 16 Erstklässler und eine Lehrerin erschoss. Murray brauchte Jahre, um sich davon zu erholen. Mit 15 verliess er Schottland in Richtung Barcelona. Er wurde Teil der Big Four, stand aber trotzdem immer im Schatten von Roger Federer, Novak Djokovic und Rafael Nadal. Bis er 2016 doch noch die Nummer eins der Welt wurde.
In Erinnerung bleiben aber auch seine beiden Wimbledon-Siege. 2013 gewann er als erster Brite seit Fred Perry 1936 das traditionsreichste der vier Grand-Slam-Turniere. Zwei Jahre darauf wiederholte er seinen Coup. Nun beginnt sein langer Abschied. Einer, bei dem ihm offenbar niemand helfen kann, auch keine Psychologen. «Es hilft nichts. Ich habe grosse Schmerzen und ich kann nicht tun, was ich am meisten liebe.»