Wenn auf dem Pausenhof die Leitwölfe aus einer Schar Buben jene bestimmen, die mitkicken dürfen, wird einer wie Keylor Navas immer erst gegen Ende gewählt. Nicht weil er schlecht wäre. Er ist einfach kein Alpha-Tier. Er zieht sich lieber zurück, als sich an die Brust zu klopfen. Und das Merkwürdigste an Keylor Navas: Dieses Image hängt ihm heute noch an, notabene als dreifacher Champions-League-Gewinner.
In Costa Rica ist das völlig anders; nur Navas ist der Gleiche. In der Nationalmannschaft von Costa Rica ist Navas der Star, mit Abstand vor allen anderen. Da widmen sie ihm Songs und Videoclips. Eine Liedzeile geht so: «Navas ist der einzige Tico, der fliegen kann.» Ticos nennen sich die Costa-Ricaner selber. Sie machten Keylor zum «Nationalhelden». Sie würden ihn auch vergöttern, spräche ihnen Navas nicht ins Gewissen, dass es keinen anderen Gott geben darf neben dem wahren Gott.
Denn Keylor Navas ist ein frommer Mann. Seit Jahren. Eigentlich ein Frömmler. Ein Fanatiker, inspiriert von neo-evangelikalen Schulen nordamerikanischen Zuschnitts. Mehrmals wöchentlich besucht er Bibelkurse. Seine Frau hat er da kennen gelernt. Navas kniet auf der Torlinie nieder und bekreuzigt sich, ehe die Rasenschlacht beginnt. Hinterher, in Interviews, drückt er zuerst seine Dankbarkeit aus, hier zu sein. Seine Mitspieler lassen ihn in Frieden, wenn er Frieden sucht: via Ohrenstöpsel im Mannschaftsbus, umspült von christlichen Liedern. Ein Video, das ihn feiert, trägt den Titel: «Der Goalie Christi».
Halten wir uns ans Irdische. An die Tatsache, dass ein Mann tatsächlich fliegen kann. Sammlungen von Navas’ Paraden beweisen es: Der Ball zischt in die hohe Ecke; ein Torhüter ist weit und breit nicht zu sehen. Und dann fliegt der Ball um die Ecke, weil da eine Flatterhand gerade noch hinlangen konnte, eine Hand an einem Flattermann: Keylor ist wieder mal geflogen. Einmal in der Luft, kann er auch mitten im Flug sozusagen umkehren, in die andere Ecke sausen, wird der Ball plötzlich abgelenkt von einem Verteidigerbein, dank eines katzenartigen Luft-Luft-Katapulteffekts seines Körpers.
Messi stand so schon mehrfach ungläubig vor dem Gläubigen. Genauso die Stürmercracks von Juventus. Vor allem aber die Bayern; Ribéry dürfte noch immer auf der Therapiecouch liegen, um seine Flugangst namens Navas zu verarbeiten.
Oder Sandro, Freistoss-Spezialist von Malaga: Genauer geht ein Ball nicht ins Eck. Da aber krachte etwas gegen den Pfosten, und der Ball war weg. Erst die Wiederholung zeigte: Navas war mit offenen Augen gegen den Pfosten geflogen wie eine Schwalbe in eine Fensterscheibe. Der englische Kommentator, ebenfalls erst nach der Zeitlupe im Bild, sagte: «Dafür gibt’s nur ein Wort: Willingness!» Glaube an die Allmacht des Willens.
Natürlich findet man auch boshafte Sammlungen von Navas’ Flops. Um aber auf eine gewisse Länge zu kommen, mussten die Bastler jede Szene dreimal wiederholen. Eine ist aufschlussreich: Keylor Navas wischt einen Kullerball gleich doppelt mit der Hand über die Linie. Die Plumpheit überbietet noch Karius’ Missgeschick im Chamipons-League-Finale.
Da aber geschieht Folgendes: Der böse Mann von Real Madrid, Sergio Ramos, geht zu Navas und macht ihm Mut. Und der kratzt in der 92. Minute gegen Betis Sevilla einen Ball aus dem Winkel und sichert damit den 2:1-Sieg von Madrid. Sogar der Schiedsrichter sagte nach dem Abpfiff: «Tolle Parade» – das erkannten Lippenleser.
Fazit: Der Mann wird laufend unterschätzt – das dürften die Schweizer inzwischen gemerkt haben. Bei Navas ist ein Ball erst dann im Tor, wenn es auch die Zeitlupe bestätigt. Ausserdem ist er ein guter Penaltykiller. In Madrid hat er eine seiner wenigen Schwächen durch Training wettgemacht und sich zum letzten Verteidiger entwickelt, um von hinten einen Angriff auszulösen. Dass die Ticos da vielleicht weniger gut mitspielen, bleibt die Hoffnung der Schweizer, die am Mittwoch im letzten WM-Gruppenspiel auf Costa Rica treffen. Einen schlechten Tag dürfte Kaylor Navas kaum einziehen; schliesslich hat er immer Gott im Rücken.