Herr Knellessen, waren Sie heute schon in einem Einkaufszentrum und haben von einem dieser fantastischen Schnäppchen profitiert?
Olaf Knellessen: Nein, ich muss Ihnen gestehen, das ist nicht mein Ding, ich
kriege den Horror, wenn ich diese Bilder anschaue. Ich könnte mich in diesen Massen gar nicht bewegen, ich wäre innerhalb kürzester Zeit völlig konfus. Aber das ist meine persönliche Prädisposition, keine Gesellschaftskritik.
Die Szenen erinnern jedoch tatsächlich an Horrorfilme, oder zumindest an Schlachtszenen ...
Halt, halt! Ich habe mir vorhin kurz auf Ihrer Website die Bilder angeschaut und muss sagen: Es sieht für mich nicht aus, wie der Kampf um das nackte Überleben. Es sind eher Szenen, wie sie sich an beliebigen Volksfesten ereignen.
Volksfeste?
Ja, an der Chilbi verpasst man sich vielleicht auch einmal eine Kopfnuss, wenn sich jemand bei der Tütschi-Bahn vordrängt. Das ist aber weniger aus feindseliger Absicht, sondern weil die Leute sich da schlicht und einfach entgrenzen.
Der Black Friday ist also eine Art Jahrmarkt, wo auch einmal über die Stränge geschlagen wird – einfach ohne Alkohol?
Es ist eine Art Enthemmung, ja. Man geht in der Masse auf, entgrenzt sich von all den üblichen Restriktionen, löst sich von den Fesseln und Regeln, die uns sonst das ganze Jahr über diktieren, was wir tun, wie wir uns verhalten, wie wir uns bewegen sollten.
Der «Schwarze Freitag» bezeichnete in Europa den Börsencrash 1929 («Black Thursday» in den USA). Ist es nicht ironisch, dass nun ausgerechnet dieser Begriff für die totale Konsum-Enthemmung verwendet wird?
Ich sehe da durchaus Gemeinsamkeiten. Beim Börsencrash wurde innerhalb kürzester Zeit ein Grossteil des weltweiten Kapitals verbrannt. Und jetzt, an Black Friday, wird wieder Geld vernichtet (allein in den USA sechs Milliarden Dollar, Anm. d. Red.). Diese Art von Verschwendung
hat etwas Faszinierendes. Ich denke da an die Potlatch, die Tradition gewisser Indianerstämme, sich mit Geschenken zu überhäufen.
Vielleicht beobachten wir jetzt etwas Ähnliches: Man verschenkt Geld, etwas, von dem man sonst immer denkt, man muss es bis an sein Lebensende sparen, und wirft es den Detailhändlern in den Rachen – aber vor allem schenkt man auch, verschenkt sich und das, was man hat. Das ist doch wunderbar. Dieser Kontrollverlust, das ist eine Haltung, der ich viel Positives abgewinnen kann. Man lässt die Zügel einfach mal aus der Hand, lässt die Dinge
sausen.
Sonst lautet der Tenor in den Medien nicht selten: Konsum ist schlecht, die Massen tumb. Sie hingegen wären ein guter Botschafter für die Detailhandelsindustrie ...
Nein, ich bin mir durchaus bewusst, dass die Unternehmen in erster Linie aus ökonomischen Kriterien solche Rabatt-Tage ausrufen, nicht weil sie dem Volk ein Fest oder Freiheiten ermöglichen wollen, auch wenn das in der Werbung durchaus so vorgegaukelt wird.
Wie meinen Sie das?
Die Modeindustrie ist das beste Beispiel: Da wird Freiheit verkauft oder Spass, oder Stimmungen. Das Produkt an sich, die Hose oder das Hemd, kommt höchstens noch am Rande vor.
Also doch Konsumkritik.
Ja, natürlich. Ich verwehre mich nur gegen einen pauschalisierenden Konsumkritik-Begriff, der all die Leute, die sich in den Einkaufszentren um eine Espresso-Maschine zoffen, in einen Topf wirft und sie zu hirnlosen Marketing-Opfern stilisiert. Das ist Quatsch. Es gibt vielleicht Leute, die fallen auf die Angebote herein, andere sind tatsächlich darauf angewiesen und wieder anderen macht es wohl einfach Spass. Ausserdem muss sich der Mensch mit ökonomischen Fragen herumschlagen. Ganz abgesehen davon, dass auch das Gegenteil vom Konsum, nämlich der Konsumverzicht, ökonomischen Zwängen unterworfen ist.
Sie meinen den Biotta-Saft trinkenden Brooklyn-Hipster, der seinen ganzen Besitz verschenkt hat?
Ja, dessen Kritik am Lebensstil und am Einkaufsverhalten eines Black-Friday-Jüngers hat oftmals einen etwas elitären, abgehobenen Charakter. «Wir sind etwas Besseres, wir sind nicht angewiesen auf die Massenprodukte.» Dabei ist Konsumverzicht ja auch ein ökonomisches Kriterium: Diese Leute sagen sich, ich kaufe zwar weniger ein, dafür zahle ich mehr für das einzelne Produkt.
Aber dass all die Angebote und Rabatt-Aktionen letztendlich dazu dienen, den Kunden das Geld aus der Tasche zu ziehen, ist doch unbestritten?
Klar, aber das passiert tagtäglich, nicht nur am Black Friday. Ich würde deshalb speziell in diesem Kontext auch nicht von Betrug sprechen. Das gehört einfach zum ganzen System und ist nicht nur in diesem Fall wirksam. Man sieht ja meistens auf den ersten Blick, ob die Ware Ramsch ist, die einem angedreht werden soll. Und selbst wenn es Betrug ist, ist es müssig, sich drüber aufzuregen: Wenn Sie ins Ausland gehen und vom Taxifahrer übers Ohr gehauen werden, gehört das doch irgendwie dazu, ist part of the game.
Schnäppchen sind also nicht einfach nur da, um Bedürfnisse zu erzeugen und zu befriedigen, die der Mensch vorher gar nicht hatte?
Schauen Sie, das mit den Bedürfnissen und Wünschen ist so eine Sache. Man erwirbt sie immer, sie werden immer geweckt. Wünsche und Bedürfnisse werden nicht vererbt – abgesehen von den vitalen Interessen.
Was folgt eigentlich auf den Black Friday? Der Single Day? Der Tag der alleinerziehenden Mütter? Der Tag der
unglücklichen Herzen? Der Tag der vergesslichen Menschen? Der Tag der Linkshänder?
Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Man kann alles Mögliche verkaufen für jede mögliche Gesellschaftsgruppe. Anderseits: Wenn man so etwas jeden Monat ausrufen würde,
würde das nach kurzer Zeit wieder verflachen. Eine gewisse Knappheit
fördert das Konsumverhalten, das sind basale ökonomische Theorien.