Es ist ein Entscheid, der wahlweise als «skandalös», «unverständlich» oder «nur folgerichtig» bezeichnet wird. Vor allem aber ist es ein Entscheid, der niemanden kalt lässt – schon gar nicht im Wortsinn: Beznau 1, eines der ältesten kommerziellen Atomkraftwerke der Welt, darf wieder ans Netz.
Nach über 1100 Tagen kann es wieder Strom liefern. Dies hat die Nuklearaufsichtsbehörde Ensi entschieden. Zum selben Schluss kommt eine von ihr eingesetzte, internationale Arbeitsgruppe. Man habe einen Nachweis zur Sicherheit von der Betreiberin Axpo «geprüft und akzeptiert», sagte Ensi-Direktor Hans Wanner gestern in Brugg.
Die Verantwortlichen achteten tunlichst darauf, ihre Erklärungen wissenschaftlich herzuleiten. Ökonomische oder gar politische Bewertungen waren aus dem Ensi naturgemäss keine zu hören. Dabei hat sein Entscheid zweifellos Signalwirkung. Steht doch das AKW Beznau nach der für Ende 2019 angekündigten Abschaltung des AKW Mühleberg im Zentrum politischer und rechtlicher Auseinandersetzungen.
Zudem befindet es sich keine zehn Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Wenig verwunderlich also, reisten gestern auch ausländische Journalisten ins Ensi-Hauptquartier im Aargau. Der Streit tobt schier endlos. Vor diesem Hintergrund ist es nicht leicht, den Durchblick zu behalten. Die vier wichtigsten Fragen und Antworten.
Seit 1969 tat Beznau 1 seinen Dienst, bis es am 15. März 2015 vom Netz genommen wurde. In seinem Herzstück gab es ein Problem: Im Reaktordruckbehälter wurden bei Ultraschallprüfungen über 900 Materialfehler in der Stahlwand entdeckt. Der Druckbehälter ist jener Teil, in dem die eigentliche Kernspaltung abläuft, der sensibelste Bereich also.
Bei den Fehlern handelt es sich um Aluminiumoxid-Einschlüsse; sie haben eine Grösse von wenigen Millimetern. Ähnliche Fehler waren zuvor schon bei belgischen Reaktoren aufgetaucht. Sie entstanden offenbar bereits beim Schmieden des Druckbehälters in den 1960er-Jahren. Das Aluminium war bei der Produktion beigefügt worden, um homogenes Material herzustellen.
Das Verdikt ist klar: Die Axpo habe nachgewiesen, dass die gefundenen Aluminiumoxid-Einschlüsse «keinen negativen Einfluss auf die Sicherheit haben», so der zuständige Ensi-Vizedirektor Georg Schwarz. Soll heissen, dass die Fehler den Alterungsprozess des Stahls nicht beschleunigen.
Für die Abklärungen konnten dem Reaktordruckbehälter keine grösseren Proben entnommen werden. Deshalb liess die Axpo eine Kopie nach Original-Plänen nachbauen. Untersuchungen daran zeigten ein ähnliches Bild wie beim Original, es entstanden die gleichen Einschlüsse.
Überdies musste die Axpo den Stahl mikroskopisch prüfen lassen. Damit sollte die Anreicherung bestimmter Elemente ausgeschlossen werden. Sowohl in der Nähe der Aluminiumoxid-Einschlüsse als auch im Material dazwischen, so das Ensi, seien «keine solchen Anreicherungen gefunden worden». Die Axpo will Beznau 1 nun wieder voll in Betrieb nehmen.
Der gestrige Tag war ein Stelldichein der AKW-Gegner. Am Vormittag protestierte die Aktion «Ensi-Mahnwache» in Brugg gegen den Wiederbetrieb. Am Abend dann gab es eine Spontankundgebung am Axpo-Hauptsitz in Baden. In links-grünen Kreisen waren bisher viele davon ausgegangen, dass das AKW nie wieder hochgefahren wird.
«Man lässt sich auf ein absolutes Risikospiel ein», sagte Geri Müller im Gespräch. Der frühere Grünen-Nationalrat und Ex-Präsident der Schweizerischen Energiestiftung (SES) nahm schon als Schüler an Anti-AKW-Protesten teil. Wenn die ganze Schweiz frieren würde, könnte man seinetwegen das Risiko eingehen, Beznau 1 wieder hochzufahren.
«Aber niemand hat diesen Winter gefroren, obwohl die AKW-Lobby das schon prophezeit hatte», so Müller. «So ist das Ganze einfach nur skandalös.» Als «höchst unverantwortlich» bezeichneten die Grünen den Ensi-Entscheid in einer Stellungnahme. Greenpeace sprach von einer «Bankrotterklärung von Aufsicht und Politik». Und die SES forderte die Axpo auf, Beznau 1 «im Interesse der Schweiz endlich stillzulegen».
Zurückhaltend fielen die Reaktionen auf bürgerlicher Seite aus. Der Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen sagte, es handle sich ja nicht um einen politischen Entscheid. «Die sehr umfangreichen Untersuchungen des Ensi zeigen schlicht und einfach, dass die Sicherheit gewährleistet ist.»
Trotz Persilschein des Ensi für Beznau 1: Ein Ende im Machtpoker ist nicht absehbar. Der Entscheid platzte mitten in den Rechtsstreit um den Weiterbetrieb der beiden Beznau-Reaktoren. Das Bundesverwaltungsgericht muss sich mit der Frage befassen, wie viel Radioaktivität bei einem schweren Erdbeben aus den AKW austreten darf.
Anwohner und Umweltschützer kritisieren, das Ensi wende einen zu hohen Grenzwert an, die AKW dürften nur deshalb am Netz bleiben. Der Bundesrat räumte ein, dass die geltenden Vorschriften unklar seien. Abhilfe schaffen soll eine Revision der entsprechenden Verordnung. Dass der Bundesrat diese bereits in die Vernehmlassung schickte, sorgt nun erst recht für Empörung.
Die SP schrieb: «Anstatt den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts abzuwarten, prescht das Ensi vor und lässt das marode AKW wieder ans Netz.» Für den Basler SP-Nationalrat Beat Jans stellt der Entscheid «die Unabhängigkeit der Behörde infrage». Die GLP kündigte gestern an, noch in der laufenden Session eine neue Interpellation zu Beznau einzureichen.
Auch für die Partei stellt sich laut dem Zürcher Nationalrat Martin Bäumle die Frage, ob die Wiederaufnahme des Betriebs überhaupt rechtens sei. «Bei einer konsequenten Auslegung der gesetzlichen Regelung zu Erdbeben ist dies höchst zweifelhaft.»
Die Axpo freilich hält an ihren Plänen fest, das AKW Beznau nach Möglichkeit bis im Jahr 2030 weiterzubetreiben. Die Anlage stünde dann in ihrem 61. Betriebsjahr. (Nordwestschweiz)