Eine gute Nachricht hatte Boris Johnson am Montag: In Grossbritannien sind schon mehr als 500’000 Menschen gegen das Coronavirus geimpft worden. «Das ist ein Grund zur Hoffnung und zur Zuversicht», sagte Johnson an einer Medienkonferenz. Damit hatte es sich aber schon. Für viele Briten gibt es an diesem Weihnachtsfest wenig zu feiern.
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Der Grund ist die mutierte Variante des Coronavirus. Sie ist nicht gefährlicher als die bisher bekannte, aber wesentlich ansteckender, wie erste Studien bestätigen. Das bedeutet eine zusätzliche Gefahr für die in manchen Ländern – darunter die Schweiz – schon jetzt stark belasteten Gesundheitssysteme. Diese Länder stoppten den Reiseverkehr mit dem Königreich.
Zum Erliegen kam auch der Warenhandel über den Ärmelkanal. In britischen Supermärkten kam es zu Hamsterkäufen, denn frisches Obst und Gemüse bezieht der Inselstaat in dieser Jahreszeit überwiegend vom europäischen Festland. Wirklich hart aber ist der «Super-Lockdown» der Stufe 4 im Südosten Englands mit der Hauptstadt London.
Er bedeutet nicht nur die Schliessung aller Läden ausser jenen des täglichen Bedarfs und der meisten öffentlichen Einrichtungen. Die Menschen in der Stufe-4-Zone dürfen das Gebiet nicht verlassen, weshalb viele nach der Ankündigung am Samstag panikartig die Flucht ergriffen. Und vor allem findet Weihnachten für sie nur im eigenen Haushalt statt.
Manchen Briten muss Boris Johnson als «Grinch» vorkommen, der ihnen wie im beliebten amerikanischen Kinderbuch das Weihnachtsfest stiehlt. Am letzten Mittwoch hatte der Premier in der Fragestunde im Unterhaus noch erklärt, eine Absage von Weihnachten wäre «unmenschlich». Nun ist ziemlich genau das eingetroffen.
Entsprechend schlecht wird das Krisenmanagement der konservativen Regierung beurteilt. In einer Yougov-Umfrage befürwortet knapp die Hälfte der Befragten die neue Stufe-4-Regel, doch 61 Prozent halten den Umgang der Regierung mit den Festtags-Massnahmen für schlecht. 38 Prozent bezeichnen ihn sogar als sehr schlecht und nur 7 Prozent als sehr gut.
On how well the government has handled the issue of COVID-19 restrictions around Christmas
— YouGov (@YouGov) December 20, 2020
ALL BRITONS
Well - 33% / Badly - 61%
CON VOTERS
54% / 42%
LAB VOTERS
15% / 82%
LONDONERS
23% / 55%https://t.co/2KDdWTL6NC pic.twitter.com/lhDKdQ0jSh
Boris Johnson selber liegt bei der Frage, wer der beste Regierungschef für das Land wäre, seit Monaten hinter Labour-Chef Keir Starmer. Dabei hatte er vor rund einem Jahr die Konservativen zu einem überwältigenden Wahlsieg geführt. 2020 würde ein «fantastisches Jahr für Grossbritannien» werden, versprach der ehemalige Londoner Bürgermeister.
Am 31. Januar folgte mit dem – politischen – Austritt aus der Europäischen Union ein erster Höhepunkt. Dann aber kam Corona, und seither stellen sich immer mehr Untertanen ihrer Majestät die Frage, ob ihr Premierminister mehr ist als ein populistisches Grossmaul. Denn im Umgang mit der Krise machte er vollmundige Versprechen, die er nicht halten konnte.
Am 19. März behauptete Johnson, man werde «innerhalb der nächsten zwölf Wochen» eine Trendwende hinbekommen. Vier Tage später verhängte er den Lockdown über die Insel, rund eine Woche nach den meisten Ländern auf dem Kontinent. Nach Ansicht von Experten hatte das Königreich damit wertvolle Zeit im Kampf gegen das Virus verloren.
Anfang April erkrankte Johnson selber an Covid-19. Er kam auf die Intensivstation eines Londoner Spitals und erhielt Sauerstoff. Kaum war er halbwegs genesen, versprach Johnson am 20. Mai, man werde ab 1. Juni ein Test-und Tracing-System von «Weltklasse» haben. Kaum stiegen die Fallzahlen im Oktober wieder an, geriet das System ans Limit.
Keine Aussage aber verfolgt Boris Johnson so wie die Behauptung vom 17. Juli, man könne bis Weihnachten «eine signifikante Rückkehr zur Normalität» erlauben. Lange hielt er diese Illusion aufrecht. Noch Mitte Oktober lehnte er die Forderung von Keir Starmer nach einem zweiten Lockdown ab. Am 5. November begann der vierwöchige Circuit-Breaker.
Zwar sanken die Fallzahlen, allerdings weniger stark als im Frühjahr. Wie in Deutschland oder Österreich hatte eine coronamüde Bevölkerung wenig Lust, die Einschränkungen zu befolgen. Kritiker unterstellen dem Regierungschef deshalb, das mutierte Virus sei für ihn ein Vorwand, um den verschärften Stufe-4-Shutdown verhängen zu können.
Tatsächlich tauchte das «englische Virus», wie die italienische Zeitung «La Repubblica» die neue Variante nennt, laut dem «Guardian» bereits im September in der Grafschaft Kent auf. Danach aber kursierte es lange unter dem Radar. Erst als die Fallzahlen vor einer Woche deutlich nach oben ausschlugen, wurde die Regierung über die Mutation informiert.
Mit den Fallzahlen wächst die Befürchtung, dass die Stufe 4 auf weitere Landesteile ausgeweitet werden könnte. Immerhin zeichnet sich beim Warenverkehr eine Lösung mit Frankreich ab. Und auch in den Verhandlungen über den definitiven Brexit am 31. Dezember präsentierte die britische Regierung am Montag einen neuen Kompromissvorschlag bei der Fischerei.
Mehr als 67’000 Todesopfer hat die Pandemie bislang in Grossbritannien gefordert. Immer wieder wird über Boris Johnsons Zukunft in Downing Street Nr. 10 spekuliert. Lästermäuler behaupten, er könne sich nur halten, weil derzeit sonst niemand den undankbaren Job wolle. Aber die Konservativen waren im Umgang mit ungeliebten Premiers noch nie zimperlich.
Am Montag machte Johnson einmal mehr ein grosses Versprechen. Dank den Impfungen könne man sich «ab Ostern auf eine ganz neue Welt freuen». Anfang April soll also alles besser werden. Vielleicht erhält der Premierminister bis dann eine Gnadenfrist.