Das Vereinigte Königreich wird gerade durch ein Wechselbad der Gefühle geschleudert. Vor zwei Wochen erteilte es als erstes Land der Welt eine Notfallzulassung für den Impfstoff von Pfizer/Biontech. Die erste Dosis erhielt die 90-jährige Margaret Keenan aus Coventry. Es war ein Prestigeerfolg für das vom Virus am stärksten betroffene Land in Europa.
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Nun ist die Freude verflogen. Seit rund einer Woche steigen die Fallzahlen wieder steil an. Dafür verantwortlich gemacht wird in erster Linie eine mutierte Variante des Virus, die in London und Umgebung festgestellt wurde. Dort fällt das Weihnachtsfest, das für die Briten einen sentimentalen Stellenwert hat, nun mehr oder weniger ins Wasser.
Damit nicht genug: Bei den Verhandlungen über den definitiven Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union (EU) ist etwas mehr als eine Woche vor der Deadline am 31. Dezember noch keine Lösung in Sicht. Im Zentrum dieses britischen Weihnachtschaos steht Premierminister Boris Johnson, der einmal mehr keine gute Figur abgibt.
Gesundheitsminister Matt Hancock benutzte am Sonntag in der BBC drastische Worte: «Sie ist ausser Kontrolle, und wir müssen sie wieder unter Kontrolle bekommen.» Gemeint ist die mutierte Variante des Coronavirus, die rund 70 Prozent ansteckender sein soll als die bisher bekannte Form und sich vor allem in Südostengland rasant ausgebreitet hat.
Am stärksten betroffen sind laut dem Boulevardblatt «The Sun» der Osten Londons und Teile der Grafschaft Essex. Am Samstag zog die Regierung die Notbremse, sie verhängte über den gesamten Südosten mit der Hauptstadt einen harten Lockdown der neuen Stufe 4. Er besteht aus der Schliessung der meisten Läden und Ausgangssperren.
Die Menschen in den betroffenen Regionen dürfen Weihnachten nur innerhalb ihres Haushalts feiern. Das sei «enttäuschend», meinte Boris Johnson am Samstag, aber man müsse sich an die Wissenschaft halten. Für den Rest des Landes gilt weiterhin die sogenannte «Weihnachtsblase», in der sich Menschen aus drei Haushalten treffen dürfen.
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon stoppte wegen der Corona-Mutation den Reiseverkehr mit dem Rest des Königreichs. Auch der Verkehr über den Ärmelkanal wurde eingestellt. Vor dem Eurotunnel und dem Fährhafen in Dover stauten sich die Lastwagen, was die Versorgung Grossbritanniens mit frischen Lebensmitteln vom Kontinent bedroht.
Verkehrsminister Grant Shapps betonte am Montag, er wolle mit Frankreich eine schnelle Lösung finden. Vertreter der Logistikbranche forderten Schnelltests für Lastwagenfahrer. Der Premierminister wiederum lud zur Krisensitzung, um über «den reibungslosen Frachtverkehr von und nach Grossbritannien» zu diskutieren, wie ein Sprecher mitteilte.
Diese Aussage entbehrt nicht der Ironie, denn auch beim endgültigen EU-Austritt am 31. Dezember geht es nicht zuletzt um die Frage, wie die Lieferketten über den Kanal sichergestellt werden können. Probleme im Grenzverkehr wird es so oder so geben, weil Grossbritannien die Zollunion verlässt und «nur» ein Freihandelsabkommen anstrebt.
Die Verhandlungen darüber stecken fest. Am Sonntag lief einmal mehr eine «letzte» Frist ohne Einigung aus. Der grösste Streitpunkt scheint ausgerechnet die Fischerei zu sein, die einen Bruchteil des gegenseitigen Handelsvolumens ausmacht. Aber für die Seefahrernation Britannien ist die Souveränität über ihre Gewässer eine Frage des Prinzips.
Dabei gehen rund 80 Prozent der dort gefangenen Fische, vor allem Heringe und Makrelen, in die EU. Für ihr Nationalgericht Fish and Chips verwenden die Briten vorwiegend Importware etwa aus Norwegen. Dennoch verlangen sie, dass innerhalb einer Zone von zwölf Seemeilen nur Schiffe unter britischer Flagge ihre Netze auswerfen dürfen.
Vorerst wird weiter verhandelt, doch die Uhr tickt unerbittlich. Angesichts der knappen Zeit könnte ein Vertrag in einem ersten Schritt nur provisorisch in Kraft treten. Das EU-Parlament ist darüber nicht glücklich, doch die Europäer wollen den Verhandlungstisch keinesfalls als erste verlassen. Sie wissen, dass der grössere Druck auf Boris Johnson lastet.
Im Sommer stellte Johnson seinen Landsleute vollmundig ein «normales» Weihnachtsfest in Aussicht. Spätestens am Samstag hat sich diese Hoffnung definitiv zerschlagen. Mit dem mutierten Virus ist das Königreich voll in der dritten Corona-Welle gelandet. Dafür kann Johnson nichts, doch sein erratisches Krisenmanagement sorgt seit Monaten für Kritik.
Und nun riskiert der konservative Premier auch noch ein Zerwürfnis mit dem wichtigsten Handelspartner. Boris Johnson steckt im Sandwich zwischen Wirtschaftskreisen, die vor einem No-Deal-Brexit warnen, und den Hardlinern, die ihr Land aus den «Fesseln» der EU befreien wollen und eine glorreiche Zukunft auf den Weltmärkten beschwören.
Millions will be heartbroken by this news, having their Christmas plans ripped up with less than a week’s notice.
— Keir Starmer (@Keir_Starmer) December 19, 2020
At this time of national crisis, the British people want clear, decisive leadership.
All we get from Boris Johnson is confusion and indecision.
Noch muss Johnson nicht um seinen Job fürchten, doch Labour-Chef und Oppositionsführer Keir Starmer hielt am Samstag auf Twitter fest, was viele seiner Landsleute denken: «In dieser nationalen Krise verlangt das britische Volk eine klare und entschiedene Führung. Was wir von Boris Johnson bekommen, sind Verwirrung und Unentschlossenheit.»