Das Presseecho auf das britische Votum zum Austritt aus der EU ist enorm. Viele Kommentatoren der Zeitungen sehen die europäische Einheit in Gefahr und kritisieren Cameron. Einige warnen vor einem Dominoeffekt, andere glauben an eine Chance für Europa. Ein Überblick:
GROSSBRITANNIEN:
«Independent»: «Ob Cameron im Oktober aus dem Amt scheidet, mit nur einer Union auf dem Gewissen, oder ob seine Dummheit einen Dominoeffekt auslöst, der die ganze EU zu Fall bringt, wird die Zeit zeigen. Vorerst muss er sich mit der Rolle dessen zufrieden geben, der das Vereinigte Königreich, das er so geliebt hat, dass er beinahe weinen musste, wenn er darüber sprach, getötet hat.»
«The Telegraph»: «David Cameron hat immer von einer Nation gesprochen. Das EU-Referendum hat gezeigt, dass Grossbritannien nicht eine, sondern mehrere Nationen ist: Nationen, die einander nicht verstehen und es nicht einmal versuchen wollen. Alt gegen jung. London gegen den Rest. Schottland gegen England. Elite gegen Arbeiter. Sie könnten auch auf unterschiedlichen Planeten leben. Das Land hat dafür gestimmt, unsere Demokratie wiederzubeleben. Aber es hat eine wesentliche Frage nicht beantwortet: Wird uns diese Demokratie verbinden - oder trennen?»
DEUTSCHLAND:
«Süddeutsche Zeitung»: «Hinter der knappen Entscheidung der Briten steht eine Mentalität. Sie heisst: »Wir gegen die.« Das ist eine gefährliche wirtschaftspolitische Einstellung. Sie verheisst nichts Gutes für die britische Zukunft - und sie gefährdet weltweit Wohlstand.»
«FAZ»: «Jetzt beginnt die Debatte über Grossbritannien. Und die über die Europäische Union. Doch ebenso wichtig ist eine Debatte über das Verhältnis zwischen Bürgern und Eliten. Das muss noch ganz anders gekittet werden als mit einem EU-Austritt.»
FRANKREICH:
«Le Monde»: «Man kann meinen, dass (David) Cameron ein sehr schlechter Verteidiger der Union war - der konservative Regierungschef ist grundsätzlich ein Euroskeptiker, der nur sehr selten ein gutes Wort für die EU übrig hat. Man kann glauben, dass die Briten ein enormes Risiko auf sich nehmen. Es ist jetzt ihre Sache, sie haben sich entschieden, auf demokratische Weise. Sie haben ein Ende gesetzt nach 43 Jahren der Teilnahme an einem europäischen Projet, das ihnen nicht schlecht bekommen ist. (...) Europa steckt einen Rückschlag historischen Ausmasses ein. Die 27 (verbleibenden EU-Staaten) können nicht anders als Konsequenzen zu ziehen. Das Schlimmste wäre, weiterzumachen wie bisher, mit einer Dynamik, die - ob zu recht oder zu unrecht - eher EU-Skeptizismus als EU-Enthusiasmus erzeugt.»
POLEN:
«Gazeta Wyborcza»: «Hat der Brexit die schlimmste Krise der EU hervorgebracht? Wenn die EU die Angst vor den Populisten abschüttelt, beschleunigt sich die Integration vor allem im Kreis der Euro-Länder. Polen, das den Zloty beibehielt, bleibt ausserhalb des harten Kerns. Nach den Schockwellen der nächsten Tage oder Wochen werden die Erschütterungen nicht mehr so gewaltig sein, aber die europäische Integration ist nicht länger unumkehrbar. Das riecht nach einem Domino-Effekt. Der Brexit wird die Populisten anderer Länder beflügeln.»
SPANIEN:
«El País»: «Der Brexit bedeutet einen enormen Rückschlag für das Projekt der europäischen Einigung. Die EU befindet sich jetzt in einem ähnlichen Zustand wie Grossbritannien 1973 bei seinem Beitritt: Sie wirkt verloren, desorientiert, von den Ereignissen überrollt und ohne klaren Plan für die Zukunft. Nachdem die EU in den vergangenen Jahren mehrere Mitgliedsstaaten vor der Pleite bewahrt hatte, muss jetzt möglichst rasch das europäische Projekt gerettet werden.»
«El Mundo»: «Der Brexit ist ein Akt der Verantwortungslosigkeit. Die Folgen werden 300 Millionen EU-Bürger ausbaden, die nicht abstimmen durften. Der britische Premier David Cameron brachte seinem Land völlig unnötigerweise ein grosses Problem ein und erliess die Fundamente der EU erschüttern. Er hatte das Referendum angesetzt, um durch eine Flucht nach vorne seine Führungsposition bei den Konservativen zu behaupten. Der Brexit schwächt Briten und andere Europäer. Es wird nicht lange dauern, bis die Briten ihre irrationale Entscheidung bereuen werden.»
ÖSTERREICH:
«Die Presse»: «Sie haben es also doch getan. Die Briten haben die Reissleine gezogen, allen Warnungen von Ökonomen zum Trotz. Die wirtschaftlichen Folgen werden nicht nur auf der Insel lange zu spüren sein. London ist nur das Epizentrum eines Erdbebens. Zuerst erschütterte es die Börsen. Die Indizes rasselten im Schnitt um zehn Prozent hinunter. Das ist der Anfang. Die kommenden Tage und Wochen werden an den Finanzmärkten mehr als turbulent. Noch bleibt die Frage: Ist es ein Schwarzer Freitag für die Finanzmärkte oder erwischt das Beben neuerlich die sogenannte Realwirtschaft?»
«Der Standard»: «Das Pro-Brexit-Lager mag nun also nach dem definitiven Opt-out getrost ein neues Imperium aus Grossmacht-Reminiszenzen und nationalen Fantastereien der Eigenständigkeit in einer globalisierten Welt errichten. An Brüssel liegt es währenddessen, London klarzumachen, dass draussen tatsächlich auch draussen meint - und zwar vor allem bei der Personen-, Kapital- und Warenfreiheit, dem Binnenmarkt also. Dabei geht es nicht darum, den Briten zu schaden. Vielmehr ist es nötig, den verbleibenden 27 Mitgliedern vor Augen zu führen, dass die Union eine politische Solidargemeinschaft und kein Selbstbedienungsladen vaterländischer Marodeure ist.»
USA:
«Washington Post»: «Die langsame Qual des Scheidungsprozesses wird in London und anderen europäischen Hauptstädten wertvolle politische Zeit und Energie verbrauchen, wodurch Europas Anführer sich nicht vereinen werden, um andere Krisen zu bewältigen. (...) Der Rat einst vertrauenswürdiger Institutionen wurde ignoriert. Gewählte Anführer wurden beiseite gekehrt. Wenn solch ein Wandel im Vereinigten Königreich stattfinden kann, kann er auch in den Vereinigten Staaten passieren. Wir sind gewarnt worden.»
«New York Times»: «Der kolossale Sprung in die Dunkelheit, den traditionell vorsichtige Menschen - die Briten - bereit zu nehmen sind, muss ernst genommen werden. Er suggeriert, dass solche Sprünge anderswo stattfinden könnten, möglicherweise in Trumps Amerika. Ein Sieg Trumps im November ist jetzt glaubhafter, weil er ein unmittelbares Vorbild in einer entwickelten Demokratie hat, die bereit ist, den Status quo für höchst riskante Unbekannte aufs Spiel zu setzen.»
«Los Angeles Times»: «Die Folgen für die britische Wirtschaft könnten katastrophal sein. Europas vereinte Haltung gegen eines wiedererstarkenden und aggressiven Russlands wird zersplittern. (...) Sich nach innen zu wenden, wird ihre Probleme nur verschlimmern und gefährlicher machen. Grossbritannien ist dem isolationistischem Populismus am Donnerstag knapp erlegen. Lasst uns hoffen, dass die Amerikaner mit der Wahl einer Trump-Präisdentschaft im November nicht denselben Fehler machen.»
INDIEN:
«Economic Times»: «Grossbritannien hat abgestimmt, die EU zu verlassen. Das ist schlecht für London als Finanzzentrum, Grossbritannien im Allgemeinen, die EU, die Weltwirtschaft und die Währungsstabilität. Indische Firmen, die in Grossbritannien investiert haben, um es als Brücke nach Europa zu benutzen, werden Prügel einstecken. (...) Populistische Politik ist die Grundlage von Euroskeptizismus und hat den britischen Premierminister Cameron dazu gebracht, ein Referendum zum Verlassen der EU zu versprechen. Die Stimmung ist populistisch in ganz Amerika und Europa.»
VEREINIGTE ARABISCHE EMIRATE:
«The Nation»: «Dass so ein so grosser Teil der Wählerschaft, 72 Prozent, an dem Referendum teilgenommen hat, verdient Respekt. Dasselbe kann über die Kampagne selbst nicht gesagt werden. Kaum jemals in der politischen Geschichte kann es eine Debatte auf einem so jämmerlich niedrigen Niveau gegeben haben, mit Beleidigungen, Panikmache und Übertreibung, die an die Stelle einer rationalen Diskussion traten. Keine der beiden Seiten ging daraus mit hohem Ansehen hervor.» (sda/dpa)