Ich bin in den vergangenen sechs Monaten per Autostopp von Winterthur nach Ürümqi in China gereist.
In 28 Ländern nahmen mich 303 Fahrer mit, sie transportierten mich kostenlos rund 19'000 Kilometer weit. Nur wenige dieser Autostopp-Helden kamen in meiner Kolumne vor, und auch sonst blieben viele Begegnungen und Beobachtungen aus Platzgründen unerwähnt.
Ich offeriere meinen Fahrern meist Süssigkeiten. Allzu oft habe ich mein Angebot aber schon bereut. Denn kaum ist der Schokoriegel ausgepackt, fliegt ein Mars- oder Snickers-Papierchen aus dem Fenster. Ganz selbstverständlich – und praktisch überall. Zigarettenstummel und Pet-Flaschen erleben das gleiche Schicksal. Umweltbewusstsein? Fehlanzeige.
«Woher kommst du?» «Warst du auch schon dort?» «Dort musst du unbedingt hin, it's awesome!» Die Dialoge in Hostels wiederholen sich und können ganz schön nervtötend sein. Doch: Je exotischer das Reiseland, desto spannender sind die Backpacker-Bekanntschaften.
Partytouristen findet man im Iran, in Turkmenistan und Usbekistan kaum. Dafür Leute wie Edith: Die 72-jährige Dänin hat rund 140 Länder bereist und wenn sie nicht irgendwann zu Bett gegangen wäre, würde ich in der iranischen Stadt Mashhad noch jetzt am Tisch sitzen und ihren Geschichten lauschen.
Ein Hoch auf die Lastwagenfahrer dieser Welt! Sie sind die letzten einsamen Cowboys, die Könige der Strasse, und sie lassen mich regelmässig in ihr Reich, um mir mit ihrem brummigen, gemütlichen Naturell das Gefühl zu geben, es sei die normalste Sache der Welt, einen Fremden am Strassenrand aufzuladen. Danke!
Ich verspreche hiermit hoch und heilig, dass ich nie mehr fluchen werde, wenn ich zurück in der Schweiz bin und auf der Autobahn voll abbremsen muss, weil ein LKW mit 85 km/h auf der linken Spur fährt um einen anderen LKW, der 80km/h fährt, zu überholen. Wenn man unterwegs ist nach Istanbul, machen 5 km/h Differenz eben doch etwas aus ...
Wer einmal die Rush-Hour in einer Grossstadt wie Istanbul oder Teheran erlebt hat, der kann über den Begriff Dichtestress im Zusammenhang mit der Schweiz nur lachen. Sogar die Kamele in der iranischen Wüste hätten mehr Grund, sich zu beklagen.
«Alleine macht man mehr Erfahrungen.»
«Ja, ab und zu bin ich einsam, aber das gehört dazu und tut auch mal gut.»
«Doch, doch, ich habe Freunde.»
So muss ich mich ständig rechtfertigen, weil ich alleine unterwegs bin. Ob im Balkan, dem Mittleren Osten, Zentralasien oder China – in den meisten Kulturen ist das unüblich oder gar verpönt.
Eine Weltreise lässt sich nicht perfekt vorbereiten, deshalb stört es mich nicht, wenn ich feststelle, dass ich etwas vergessen habe. Aber einen Vorwurf mache ich mir: Ich hätte vor meiner Abreise zumindest ein bisschen Russisch lernen sollen. Denn seit ich Europa verlassen habe, sind englischsprachige Fahrer sehr selten geworden – und in allen ehemaligen Sowjetstaaten ist Russisch nach wie vor sehr verbreitet.
Retter in der Not sind die Themen Fussball und Familie. Darüber kann man auch sprechen, wenn man nicht miteinander sprechen kann. Die Erkundigung nach der Familie hat zudem den hübschen Nebeneffekt, dass ich mich in einem Auto immer gleich ein wenig wohler fühle, wenn mir der Fahrer Bilder zeigt von seiner kleinen Tochter oder seinem kleinen Sohn.
Ein Türke erzählt von seinem ersten Besuch in Deutschland. Ich verstehe nichts, bis er unter lautem Gelächter seiner Kumpels den Gang zur Toilette nachspielt: Zuerst ist die Schüssel ungewohnt und dann weiss er nicht, wie er den Hintern sauber machen soll, weil er nur eine Papierrolle findet, aber keinen Wasserschlauch wie in der Türkei üblich. Das kann ich so nicht stehen lassen.
Ich stehe lachend auf und spiele meine WC-Erfahrungen in der Türkei nach – wie ich vergeblich nach Papier suche und dann hilflos und ängstlich auf den Schlauch blicke ... An die fehlende Schüssel habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Das kann in öffentlichen Toiletten, die ja in der Regel überall auf der Welt wenig einladend sind, sogar angenehmer sein. Das Papier ziehe ich dem Schlauch aber immer noch vor. Nicht zuletzt deshalb, weil ich nicht besonders darauf stehe, mit einem nassen Hintern ins Restaurant zurückzukehren.
Schweizer Handynutzer werden nach wie vor geschröpft. Meine Reisekumpels aus Australien, Brasilien, Frankreich, Holland und Portugal konnten es kaum glauben, als ich ihnen im Iran erzählte, dass mich ein Anruf in die Schweiz CHF 4.75 pro Minute kostet. Auch SMS ins Heimatland kosten bei allen anderen nur einen Bruchteil von dem, was mir die Swisscom verrechnet (CHF 0.90).
Ja, ich weiss, es wäre deutlich günstiger, wenn ich mir in jedem Land eine lokale SIM-Karte kaufen würde. Wenn man jedoch alle paar Wochen in einem neuen Land ist, ist das ziemlich mühsam. Zudem hänge ich an meiner Handynummer. Aber ich gebe zu: Ich bin selbst schuld, dass ich mir die horrenden Gebühren gefallen lasse.
Puhh, was habe ich schon gewartet, bis ich endlich etwas zu essen oder auch nur ein Bier bestellen durfte. Besonders in ehemaligen Sowjetstaaten spielte das Servicepersonal oft seelenruhig mit dem Smartphone oder quatschte mit den Kollegen, während ich als einziger Gast verloren an meinem Tisch sass.
Rechts ranfahren, Scheibe runter und den Erstbesten fragen: «Hey, wo finde ich das Hostel XY?» Vielleicht weiss es der Angesprochene, sonst holt er den Obstverkäufer nebenan zu Hilfe. Dann wird noch ein bisschen über dieses und jenes gequatscht, bis sich mein Fahrer dankend verabschiedet. Alles ganz natürlich, ohne künstliche Distanz – so, als würde man sich schon jahrelang kennen. Vor allem in der Türkei und dem Iran hat mich diese Unkompliziertheit im Umgang mit unbekannten Passanten immer wieder beeindruckt.
Kaum ein Land, in dem die Leute nicht unter diesem Geschwür leiden. Und leider tragen oft auch die kleinen Leute dazu bei, diesen Teufelskreis aufrechtzuerhalten, indem sie die Korruption im Alltag akzeptieren – ob auf dem Amt, beim Arzt, bei der Polizeikontrolle, bei der Stellenbewerbung oder an der Uni.
Das Positive: Als Reisender kam ich bisher nie in Berührung mit Korruption. Vielleicht, weil sie sich bei Touristen nicht trauen. Oder weil ich einfach nur Glück hatte.
Reza ist ein 25-jähriger Iraner und war drei Jahre mit einer jungen Frau zusammen. Weil ihre Eltern der Meinung waren, es sei Zeit, dass sie unter die Haube komme, hat sie ihn gebeten, sie zu heiraten. Reza konnte sich durchaus vorstellen, sie eines Tages zu heiraten, doch weil er noch Student war und kein Einkommen hatte, fühlte er sich noch nicht bereit dazu. Also hat sie auf Druck der Familie einen anderen geheiratet. Reza zeigt mir auf seinem Handy Fotos von ihr – er liebt sie noch immer.
Die Liebe ist ja bekanntlich überall kompliziert, doch viele Gesellschaften machen sich das Leben zusätzlich schwer. In sehr vielen Ländern ist es nicht einmal möglich, die Freundin mit nach Hause zu nehmen. Nur ganz wenige Eltern akzeptieren das – und das nicht nur in muslimischen Ländern wie dem Iran, sondern auch in christlich geprägten Ländern wie Armenien.
Von Audi, BMW und Volkswagen über Kärcher und Stihl bis hin zu Haribo, Milka und Rittersport: Es ist schon beeindruckend, wie vielen deutschen Marken man überall auf der Welt und in allen Industriebereichen begegnet. Das bleibt nicht ohne Wirkung, von Chisinau bis China sprechen die Menschen mit grösster Bewunderung von unseren nördlichen Nachbarn.
Ein deutlich weniger positives Deutschland-Bild haben die Reisenden aus Europa. Viele Südeuropäer werfen den Deutschen in der Eurokrise mangelnde Solidarität vor und einige Franzosen, die ich getroffen habe, haben Angst davor, dass Deutschland zu mächtig wird. Und übrigens: Auch auf Schweizer Marken treffe ich sehr oft, die Bekanntheit von «Made in Switzerland» scheint in der breiten Bevölkerung aber deutlich geringer.
In den Staaten des früheren Jugoslawiens wird Tito nachgetrauert, in Rumänien erzählen sie mir, wie gut es unter dem brutalen Diktator Ceaușescu war und im Iran trauern sie der Zeit des Schahs hinterher. Nostalgie ist allgegenwärtig.
Abgesehen vom Iran fällt aber auf, dass es vor allem ältere Leute sind, die von vergangenen Zeiten schwärmen. Mein Verdacht: War früher vielleicht alles besser, weil sie selbst jung waren?
In den meisten Ländern sind ältere Menschen im öffentlichen Leben viel präsenter als in der Schweiz. Opas spielen im Park mit anderen Opas Karten oder Schach, Omas sitzen vor dem Haus auf einer Bank, stricken und schauen den Kindern beim Spielen zu. Ist das nicht schöner, als in den eigenen vier Wänden darauf zu warten, dass der Sohnemann anruft?
In Osteuropa sprechen erstaunlich viele junge Leute Englisch oder gar Deutsch. Das ist erfreulich, hat aber einen traurigen Grund: Die Jungen wollen in den Westen, wo sie sich besser bezahlte Jobs – oder zumindest irgendeinen Job – erhoffen.
Das Problem: Diese gut ausgebildeten Leute fehlen dann in ihrer Heimat und im schlimmsten Fall wird die Schere zwischen armen und reichen Ländern noch grösser.
Süleyman ist praktizierender Moslem, unterwegs machen wir Halt in einer Moschee, damit er sein Mittagsgebet sprechen kann. Kaum wieder im Auto zündet sich der Türke eine Zigarette an. Danach noch eine und noch eine. Ausserhalb Europas wird gequalmt, was das Zeug hält. Kaum ein Fahrer, der mir keine Zigarette anbietet, was ich als höflicher Gast natürlich nicht ablehnen kann. Besonders in der Türkei und dem Iran sind die Glimmstengel hoch im Kurs – Koran hin oder her.
Ich bin eigentlich nicht religiös, aber ab und zu musste ich einfach ein Stossgebet gen Himmel schicken, wenn einer meiner Fahrer wieder einmal eine doppelte Sicherheitslinie überquerte, um zwei Lastwagen gleichzeitig zu überholen. Das Gefährlichste am Autostöppeln ist der Fahrstil einiger Fahrer!
Bei den älteren Fahrern sage ich mir jeweils: «Okay, er fährt bereits seit Jahren so und lebt noch. Die Chance ist klein, dass ausgerechnet auf dieser Fahrt etwas passiert.» Bei jungen Lenkern, die besonders oft dem Geschwindigkeitswahn verfallen, funktioniert diese Beruhigungstaktik leider nicht.
Marco Polo nacheifernd, reiste ich in den vergangenen Wochen der Seidenstrasse entlang. Ich hoffte auf verträumte kleine Dörfer, in denen sich die Welt noch etwas langsamer dreht als bei uns. Doch weit gefehlt: Selbst in kleinen Oasenstädtchen sind die Strassen schön gepflastert, Hochhäuser ragen in die Höhe und im Supermarkt gibt es Coca-Cola.
Reisen ist nach wie vor spannend, es wird aber immer schwieriger, eine total andere Welt zu finden. Oder anders gesagt: Bereits die Kamelhirten in der iranischen Wüste tippen mittlerweile auf dem Smartphone herum.
Ob Flüchtlingskrise auf dem Balkan, Kurdenkonflikt in der Türkei oder Krieg in der Ostukraine: Ich war in diesen Regionen, als in den westlichen Medien laufend über diese Brennpunkte berichtet wurde. Im Land selbst habe ich jedoch von alldem so gut wie nichts mitbekommen. Das soll aber nicht heissen, dass die Berichterstattung falsch war.
Aber es zeigt, dass solche Krisen meist lokal beschränkt sind und deshalb nicht gleich das ganze Land gefährlich ist.
In einem Hostel in der armenischen Hauptstadt Yerevan: Ein Amerikaner, ein iranisches Pärchen und zwei junge israelische Frauen sitzen im Gemeinschaftsraum gemütlich an einem Tisch – und spielen Uno.
Als mir der junge Mann auf der turkmenischen Botschaft sagt, dass er meine einwandfreie 50-Dollar-Note nicht akzeptieren könne, weil sie älter sei als von 2006, muss ich nur noch schmunzeln. Es ist das Ende einer dreiwöchigen Tortur, um Visa für Turkmenistan und Usbekistan zu bekommen. Mit Vorschriften, die keinerlei Sinn machen – und Beamten, die diese Vorschriften aufs Komma genau befolgen und nicht mit sich reden lassen.
Aber ich habe natürlich vollstes Verständnis für das ganze Tamtam. Turkmenistan und Usbekistan sind ja bekanntlich Länder, in die Europäer besonders oft einreisen, um nie wieder auszureisen und sich ein neues Leben aufzubauen ...
Eine Einladung zum Übernachten oder zum Essen, ein Fremder, der mir eine Tasse Tee an den Strassenrand bringt, oder einfach nur ein «Willkommen» gepaart mit einem Lächeln – mit welcher Warmherzigkeit ich in den letzten sechs Monaten meist empfangen wurde, ist einfach nur fantastisch und ohne Frage das Beste an meiner Reise!
Der Eindruck eines Landes ist natürlich immer sehr individuell und hängt stark von den einzelnen Begegnungen ab. Ich will deshalb auch kein Ranking der gastfreundlichsten Länder machen. In besonders guter Erinnerung bleiben betreffend Gastfreundschaft werden mir aber Rumänien, (Ost-) Türkei, Georgien, Iran und Kirgisistan.
Während ich als Schweizer Tourist überall willkommen bin, warnen mich meine Fahrer in der Slowakei vor der Ukraine, in der Ukraine vor Transnistrien, in Serbien vor den Albanern und in Albanien vor den Serben. Betreffend Zigeunern raten sie mir fast überall zu Achtsamkeit, und eine Reise in den Iran wird mir nirgends empfohlen. Im Iran wiederum fluchen sie über die Einwanderer aus Afghanistan.
Kurz: Angst vor dem Fremden, die meist in Fremdenfeindlichkeit mündet, herrscht überall. Deshalb ist Reisen so wertvoll: Es hilft, Vorurteile abzubauen und die Überzeugung zu festigen, dass die Angst vor dem Fremden unbegründet ist.
Der Testosteronüberschuss junger Männer ist vor allem in jenen Ländern offensichtlich, in denen vorehelicher Sex gesellschaftlich nicht akzeptiert oder gar verboten ist. Im Iran und der Türkei fragen mich mehrere Fahrer, ob ich Pornovideos auf meinem Handy habe. Und wenn sie die Fotos auf meiner Kamera anschauen, fragen sie bei jeder Frau, ob ich Sex mit ihr hatte.
Die schlimmste Grenzüberquerung hatte ich von der Türkei nach Georgien. Mit meinem grossen Rucksack stand ich über eine Stunde inmitten von rund 500 georgischen Grenzgängern und kriegte kaum Luft zum Atmen. Und die Luft, die ich noch hatte, nutzte ich dafür, um lauthals die Leute zu beschimpfen, die einfach über den Zaun kletterten, um sich ganz vorne einzureihen. «Ihr huere Affe», höre ich mich auf Schweizerdeutsch immer noch schreien. Das musste sein.
In solchen Momenten wird einem bewusst, dass offene Grenzen schon etwas Schönes sind. Hoffentlich sind sie in Europa noch da, wenn ich von meiner Reise zurückkomme! ...