Als Dolores kam, war ich jung und geladen. Ich hatte ein Jahr in Berlin gelebt, und Berlin hatte mich latent aggressiv gemacht. Erstens, weil ich wegen der Liebe nach Berlin gezogen war, aber die Liebe entschied sich dann gegen mich und für etwas, das ich in den nettesten Momenten als «blonde Qualle» bezeichnete. Zweitens, weil damals in Berlin einfach alle lauter, direkter und ein bisschen hässiger waren als in der Schweiz. Berlin wirkte wie eine körnige Schwarz-Weiss-Fotografie, die Schweiz pastellfarben gezähmt.
Ich kehrte also heim, nach Basel, und hatte meinen Job neben dem Studium als Hostesse an der Messe Basel. Ich trug eine Uniform, sie bestand aus einem blauen Deux-Pièces, altrosa oder lila Seidenblusen mit Schulterpolstern und Strümpfen in dieser undefinierbaren Farbe namens «Taupe». Sie war nicht chic, nicht cool, nicht sexy, sie stand keiner von uns, aber wir waren ja auch nicht viel mehr als menschliche Wegweiser zu den Toiletten.
Das war mein Job. Alle zwei Monate zwischen sechs bis zehn Tagen am Stück. Ein Stück nannte sich «Mustermesse». Neben der Fachmesse für Gastronomie gab es da die meisten Degustationen, auch alkoholische. Und DRS 3 hatte ein Studio aufgebaut. DRS 3, heute Radio SRF 3, war damals die popkulturelle Blutreserve, an der die Jugend hing. Wer da moderieren durfte, war ein Idol.
Und da war plötzlich dieser Song. Er dröhnte in der aufdringlichsten Heavy Rotation, die ich bis heute gehört habe, nämlich ungefähr immer, vom Stand von DRS 3. Er war ansteckend. Da hatte eine ganz schön viel Feuer, Frust und Wut im Blut.
Aber was war das? Sowas wie die Mädchenantwort auf Nirvana? Harter Gitarrengrunge am Anfang, der sofort klar macht, dass es hier um Schmerz in seinen darksten Schattierungen geht. Eine in aller Zartheit geborene Stimme, die sich zur plakativsten Stadionrockröhre hochschwingt, und ein Text, in dem «tanks», «guns», «fighting» und «crying» vorkommen.
Mein Musik-Nerv für den etwas dreckigeren Mainstream fühlte sich glücklich getroffen. Fuck the Deux-Pièces! Diese Dolores verstand mich. Und Millionen anderer.
Es dauerte lange, bis ich den Videoclip zu «Zombie» gefunden hatte. Internet hatte man damals noch nicht einfach zuhause. YouTube war noch lange nicht erfunden. Und im Fernsehen gab es gerade mal zwei oder drei (oder war es nur eine?) Sendungen, die Musikvideos zeigten. Doch irgendwann war sie da: Dolores, die Schmerzensfrau, die goldübergossen vor einem Kreuz steht und mit ihr goldene Buben in Engelskostümen. Ein Graus. Typisch Neunziger, das Jahrzehnt der grotesken Geschmacklosigkeit.
Zwischen dem komplett unmotivierten Goldrauschkitsch war zu sehen, worum es in «Zombie» wirklich ging: Grobkörniges Schwarz-Weiss zeigte die Ermordung eines Kindes, er war einem wahren Ereignis aus dem britisch-irischen Konflikt nachempfunden. Im Jahr zuvor hatten Soldaten der IRA bei einem Bombenattentat in England zwei Kinder getötet.
In den schwarz-weissen Passagen zeigt sich Dolores auch, wie sie wirklich war: eine wütende, zarte Schönheit mit kurzen blonden Haaren, einer für die Neunziger geradezu ausserirdisch geschmackssicheren Frisur. Ich war verliebt.
Später wurden die Haare schwarz und Dolores immer zarter, Magersucht, Alkohol und Depressionen frassen sie beinahe auf, sie blieb schön. «Ode to My Family», «21», «Salvation», «When You're Gone» gehörten zur mal melodramatischen, mal tröstlich melancholischen Grundierung meiner 90er-Jahre. Dolores war da, dafür bin ich dankbar. Now she's gone.
The End.