Herr Frei, mehr als ein Jahr nach
der grausamen Tat in Rupperswil erhebt die Staatsanwaltschaft
Lenzburg-Aarau Anklage. Wieso hat es so lange gedauert?
Andreas
Frei: Es handelte sich um eine extrem komplizierte Untersuchung,
die Polizei musste unzählige Spuren auswerten und Befragungen
durchführen, zudem nehmen die Gutachten viel Zeit in Anspruch. 16
Monate sind nach meiner Erfahrung in so einem Fall eine durchaus
übliche Zeitspanne.
Die Staatsanwaltschaft plädiert
unter anderem auf mehrfachen Mord – bekommt der mutmassliche Täter
lebenslänglich?
Das ist eine juristische Frage. Das
Strafmass spielt bei Thomas N. aber ohnehin keine grosse Rolle. Viel
eher die Frage nach der Massnahme.
Im Raum steht die sogenannte
lebenslängliche Verwahrung.
Ja, nach allem, was man weiss, handelt es sich bei Thomas N. um einen hochgefährlichen Täter,
der an einer psychischen Störung leidet, die nur schwer oder gar
nicht zu behandeln ist. Dafür spricht etwa, dass er bereits vor der
Tat konkrete Vorbereitungshandlungen unternommen hatte. Auch die
Rückfallgefahr dürfte extrem hoch sein.
Sie rechnen also mit einem Antrag
auf lebenslängliche Verwahrung?
Ja. Ein starkes Indiz dafür
ist, dass die Staatsanwaltschaft zwei Gutachter auf den Fall
angesetzt hat – eine Voraussetzung für die lebenslängliche
Verwahrung.
Bislang wurde erst eine lebenslange Verwahrung rechtskräftig ausgesprochen, alle anderen hob das Bundesgericht auf. Wird Thomas N. lebenslang verwahrt?
Ich denke schon. Nach der heutigen
Praxis ist es praktisch ausgeschlossen, dass er je wieder frei kommt.
Thomas N. soll vier Menschen auf
brutale Art und Weise umgebracht und sich mehrmals sexuell am
minderjährigen Sohn der Familie S. vergangen haben. Was können Sie
über die Persönlichkeit des Beschuldigten sagen?
Es gibt starke Hinweise darauf, dass
Thomas N. zum Zeitpunkt der Tat an einer Paraphilie litt, einer
Störung der Sexualität, die sich in seinem Fall auf Kinder
richtete. Wenn man sich die Details der Tat vergegenwärtigt, hat er
zudem unverkennbar sadistisch gehandelt. Aus dieser Mischung ergibt
sich die Untherapierbarkeit.
Die Staatsanwaltschaft hat bei
Thomas N. auch «umfangreiches kinderpornographisches Material» sichergestellt, wie sie in der Medienmitteilung schreibt.
Ja,
aber man muss vorsichtig sein. Der Grossteil der Leute, die
Kinderpornographie konsumieren, wird nicht durch sogenannte Hands-on-Delikte, also Übergriffe, straffällig. Dass Thomas
N. im Besitz von kinderpornographischem Material war, deutet wie
gesagt auf eine paraphile Störung hin.
Wird es sich für Thomas N. in
irgendeiner Weise günstig auswirken, dass er von Anfang an geständig
war, und auch geständig geblieben ist?
Das mag vielleicht günstig sein für
eine eventuelle nachfolgende Therapie. Hinsichtlich Strafmass oder
der Einschätzung der Gefährlichkeit ist das aber unerheblich.
Angenommen, Thomas N. wird tatsächlich zu einer
lebenslänglichen Verwahrung verurteilt, wie geht es dann weiter mit ihm?
Man wird eine Therapie versuchen, auch
wenn diese aussichtslos sein sollte. Er wird wohl in einem
Hochsicherheitsgefängnis in einen speziellen Therapietrakt kommen,
und dort einer gruppentherapeutischen Behandlung unterzogen.
Der Vierfachmord in Rupperswil hat
die Schweiz erschüttert wie wenige Kriminalfälle zuvor ...
Ja, spontan kommen mir in den letzten
30 Jahren nur fünf bis zehn vergleichbare Fälle in den Sinn. Der
fünffache Kindermörder Werner Ferrari, der als Babyquäler bekannt
gewordene René Osterwalder, sowie der ‹Mord am Zollikerberg›, bei dem
der zu lebenslänglich verurteilte, mehrfache Mörder und
Vergewaltiger Erich Hauert die Pfadfinderin Pascale Brumann tötete.
Der ‹Mord am Zollikerberg› veränderte nicht nur Strafvollzug, er führte schlussendlich auch
zur Einführung der lebenslänglichen Verwahrung. Wird der Fall
Rupperswil dereinst eine ähnliche Auswirkungen auf Justiz,
Polizeiarbeit oder Forensik haben?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Ausgangslage ist eine völlig andere. Beim
Mord am Zollikerberg handelte es sich um einen verurteilten,
lebenslänglich inhaftieren Täter, Thomas N. hingegen war ein
unbeschriebenes Blatt. Die Polizei hat im Fall Rupperswil zudem, nach
allem was bekannt ist, mit einer unglaublichen Akribie gearbeitet.
Es gab also im Vorfeld keine
Anzeichen, dass Thomas N. zur Tat schreiten würde?
Nein,
zumindest wäre mir nichts darüber bekannt. Klar, es gibt Fälle von
Mehrfachtötungen, bei denen man im Nachhinein mit einer gewissen
Berechtigung sagen kann: Man hätte es ahnen können. Aber bei Thomas
N. gab es nichts dergleichen. Jedenfalls nichts, das ein
prophylaktisches Handeln gerechtfertigt hätte.