Le Mans, GP von Frankreich. Tom Lüthi fährt die Trainingsbestzeit und Dominique Aegerter (6.) wird am Sonntag (12.15 Uhr) dicht hinter seinem Rivalen aus der zweiten Startreihe losfahren.
What a display from @ThomasLUTHI as he storms to pole in Le Mans #FrenchGP pic.twitter.com/Ywvf3q8TVp
— MotoGP™ 🇫🇷🏁 (@MotoGP) 20. Mai 2017
Wenn wir verstehen wollen, warum Tom Lüthi und Dominique Aegerter wieder ganz vorne fahren, müssen wir uns mit Psychologie befassen. Nicht mit Reifen, Rädern und Maschinen. Beide «Rennwölfe» sind gut drauf und schnell, weil sie endlich die Kreide ausgespuckt haben. Sie müssen nicht mehr Kreide fressen.
Kreide fressen? In der Geschichte «DerWolf und die sieben jungen Geisslein» täuscht der Wolf die misstrauischen Geisslein, indem er Kreide frisst, damit seine Stimme zarter und so der Stimme der Ziegenmutter ähnlich wird. Kreide fressen steht also für Friedfertigkeit vorspielen. Sich scheinbar umgänglich geben.
Zwei lange Jahre lang, 2015 und 2016, lebten und fuhren Tom Lüthi (30) und Dominique Aegerter (26) unter dem gleichen Dach. Wir feierten dieses helvetische «Dream Team». Doch inzwischen, im Blick zurück, erkennen wir: Zwei solche Alphatiere konnten so nahe aufeinander nicht in Frieden leben. Die Enge stimulierte sich nicht. Sie führte zu einer mentalen Blockade.
Die zwei «Rennwölfe» mussten viel zu viel Kreide fressen und in einer Art PR-Kindergartenspiel ständig beteuern, wie sehr sie sich mögen. Wie toll es sei, sich so nahe zu sein.
Erst als die Trennung von DominiqueAegerter klar war, brauste Tom Lüthi im letzten Herbst wieder zu Siegen. Inzwischen haben die «Rennwölfe» die Kreide der letzten beiden Jahre ausgespuckt und knurren wieder. Sie fallen nicht übereinander her. Sie respektieren sich gegenseitig. Aber endlich haben sie im übertragenen Sinn wieder Freiräume, Sauerstoff, Ellenbogenfreiheit.
Hier in Le Mans hat sich diese neue Freiheit eindrücklich gezeigt. Tom Lüthi stürzt im Abschlusstraining in der letzten Kurvenkombination vor den Rädern von Dominique Aegerter, rappelt sich wiederauf, rollt an die Box zurück. Das Bike wird wieder zurecht gedengelt. Er atmet tief durch – und rast zum 12. Mal in seiner Karriere zur Trainingsbestzeit. Sechs davon hat er in Siege umgemünzt.
The most chilled out crash you'll see this weekend 😎 #RiderOK pic.twitter.com/rP7SFByjZK
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«Die Streckenposten hatten einsetzenden Regen angezeigt. Weil ich auf einer schnellen Runde war, habe ich trotzdem gepusht und habe es wohl übertrieben. Der Sturz war kein Problem, ich bin mit der Maschine nur weggerutscht. In der Box habe ich mich wieder beruhigt, mein Team hat sogar noch einige technischen Verbesserungen gefunden.»
Wer in dieser kritischen Situation so cool bleibt, ist ein Champion. Wir erleben den ruhigsten, selbstsichersten Tom Lüthi aller Zeiten. Kein Vergleich zur Hektik noch vor einem Jahr.
Auch Dominique Aegerter ist viel ruhiger, gelassener und konzentrierter als in den letzten zwei Jahren. Langsam aber sicher gewöhnt er sich an sein neues Team. Der Wechsel nach zwei Jahren von Kalex zurück auf Suter wirkt sich aus. Nicht technisch. Der Wechsel zeigt seine Wirkung im Kopf. «Renn-Voodoo». Um die psychologische Wirkung zu verstärken, stehen gleich drei Fahrwerkspezialisten von Eskil Suter in der Box.
Viel können sie «an der Front» nicht tun, einer würde reichen. Aber diese markante Präsenz verstärkt die «Voodoo-Wirkung» des Markenwechsels. Und befreit von der Präsenz seines Rivalen, vom «Lüthi-Komplex», nähert sich «Domi» wieder der Schnelligkeit und Sicherheit des Jahres 2014. 2014 hat er seinen ersten GP gewonnen. Es war das Jahr vor der «Zwangsheirat» mit Tom Lüthi.
Dominique Aegerter beginnt das Rennen aus der zweiten Reihe. Eine exzellente Ausgangsposition. Er ist wieder ganz vorne in einer Moto2-WM angekommen, die verrückter, intensiver, besser ist als je. Er sagt: «Vor zwei Jahren reichten 100 Prozent für eine Spitzenklassierung. Jetzt braucht es 150 Prozent.» Er habe Tom Lüthi stürzen gesehen. Seine Reaktion: «Keine. Ich habe nur kurz gezuckt.»
Cool bleiben, wenn Menschen und Maschinen fliegen, ist alles und macht den Champion. Er gibt aber zu bedenken, dass er noch nicht ganz dort ist, wo er sein möchte. Die unfreiwillige Pause habe er noch nicht ganz verkraftet. Weil ihn sein Team auf die Strasse gesetzt hatte, konnte er die letzten vier Rennen der letzten Saison nicht mehr fahren. «In den Zweikämpfen merke ich diese fehlende Rennpraxis immer noch.»
Die Chance, endlich beide gemeinsam auf dem Moto2-Podest zu sehen, werden dennoch immer grösser. Und dann gibt es da noch eine Episode, die viel zur Entspannung beigetragen hat. Ferdinand «Fere» Aegerter verbindet eine tiefe Feindschaft mit Fred Corminboeuf, dem Teamchef von Tom Lüthi, der letzte Saison ja auch der Chef seines Buben war. Aus irgendeinem Grund schuldete Corminboeuf Dominique Aegerters Vater seit längerer Zeit noch 3000 Franken und weigerte sich offenbar beharrlich, dieses Geld zu zahlen.
Die Episode hat die Stimmung vergiftet. Ferdinand Aegerters Zorn war so gross, dass inzwischen befürchtet werden musste, es könnte im Fahrerlager zu einer helvetisch-vaterländischen Schlägerei kommen. Mit unabsehbaren Folgen. «Feres» Temperament und sein Sinn für Gerechtigkeit sind nahezu legendär.
Nun hat ein guter Freund der Familie Aegerter – ein wohlbestallter Garagist mit abgeschlossener Vermögensverwaltung aus dem Oberaargau – dem aufgebrachten Vater die 3000 Stutz gegeben. Sozusagen «Friedens-Sponsoring». Auf dass im Fahrerlager wieder eidgenössischer Friede herrsche. Und tatsächlich ist jetzt im «Aegerter-Clan» Ruhe und Gelassenheit eingekehrt. «Fere» grüsst inzwischen Fred Corminboeuf mit süffisantem Lächeln. Geld und Geist im Töffrennsport.