Da tut schon nur das Zuschauen weh: totale Euphorie in der Ferrari-Box! Vater Luis Antonio Massa, soeben nach einer Nierenstein-OP aus dem Spital entlassen, feiert beim GP von Brasilien mit dem Rest der Familie hemmungslos den vermeintlichen Weltmeistertitel seines Sohnes Felipe.
Auch draussen im Autodromo Jose Carlos Pace rasten 90'000 Brasilianer komplett aus: Lokalmatador Massa ist mit 13 Sekunden Vorsprung vor Fernando Alonso über die Ziellinie gebrettert, Konkurrent Lewis Hamilton biegt nur als Sechster auf die Zielgerade ein – das muss 17 Jahre nach Ayrton Senna endlich wieder für den ersten Titel eines Landsmanns reichen.
Doch das tut es eben nicht. Ein Ferrari-Mechaniker holt Massas Familie brutal auf den Boden der Tatsachen zurück: «Nein, nein! Es ist noch nicht vorbei!» Geschockt beobachtet die Truppe, wie Lewis Hamilton im Silberpfeil eines der grössten Comebacks der Formel-1-Geschichte hinlegt.
Schon am Start nimmt das Drama seinen Lauf: Ein heftiger Regenschauer geht exakt zum vorgesehenen Startzeitpunkt über der Strecke nieder. Der Saison-Showdown beginnt mit zehn Minuten Verspätung und die Pläne der Strategen werden durch die Wetterkapriolen komplett über den Haufen geworfen.
Massa setzt sich von der Pole schnell ab und fährt an der Spitze ein einsames Rennen. Hamilton, der das Finale mit sieben Punkten Vorsprung von Startposition 4 in Angriff nimmt, reicht ein fünfter Platz trotzdem auf jeden Fall zum Titel. Entsprechend konservativ und risikoscheu geht der Brite auf der trocknenden Strecke das Rennen an.
So tuckert Hamilton im McLaren-Mercedes auf Rang 4 scheinbar sicher dem Titel entgegen. Dann setzt mit dem Regen doch wieder das grosse Drama ein. Zwanzig Minuten vor Schluss zwingt der nächste Wolkenbruch alle Fahrer zu einem letzten unplanmässigen Boxenstopp. Nur der Deutsche Timo Glock von Toyota verzichtet auf Regenreifen und prescht stattdessen vom 7. auf den 4. Platz. Hamilton fällt auf Rang 5 zurück und kann sich nun rein gar nichts mehr erlauben.
Das Unheil kommt für Hamilton in Form von Sebastian Vettel. Zwei Runden vor Schluss verdrängt der Deutsche den WM-Leader auf Platz 6 – nun hat Massa die Nase vorn! Wiederholt sich hier die Geschichte des Vorjahres? Schon damals hatte Hamilton in Brasilien den Titel im Reifen-Poker noch verzockt. Der Brite berichtet von diesem Schreckmoment: «Als mich Vettel überholte, hat mich kurz der Mut verlassen.»
Hinter Massa, Alonso, Räikkönen, Glock und Vettel biegt Hamilton auf die letzten 1200 Meter ein. Dann wird Glock der Verzicht auf Regenreifen in letzter Sekunde doch noch zum Verhängnis. Auf der nassen Strecke kann er seinen Boliden kaum mehr kontrollieren. Während das Massa-Lager in der Box schon feiert, treibt McLaren-Mercedes Hamilton via Funk noch einmal zur Höchstleistung an: «Glock wird langsamer, du kannst ihn noch packen!»
Und tatsächlich: 400 Meter vor dem Ziel schiebt sich der Brite an Glock vorbei zurück auf den rettenden 5. Rang. Massa ist geschlagen. Der Titel geht mit 98:97 Punkten an Hamilton – mit 23 Jahren, neun Monaten und 26 Tagen ist er der bis dahin jüngste Weltmeister der Geschichte.
Eingehüllt in einen «Union Jack» kann Hamilton seinen Triumph kaum fassen: «Ich kämpfe um Worte. Ich bin stolz auf alle, die mir das ermöglicht haben. Es war das schwerste Rennen meines Lebens.»
Auf dem Podest lässt «Sieger» Massa seinen Tränen freien Lauf. Auch seine Familie, die zu früh gefeiert hatte, kann sich von diesem Tiefschlag kaum erholen.
Anders Nicole Scherzinger: Die Ex-Frontfrau der Pussycat Dolls tanzt in der Boxengasse und feiert ihren damaligen Weltmeister-Freund ausgelassen: «Lewis hat alle Kraft für dieses Ziel von Gott bekommen. Am Ende habe ich nur noch geschrien: Go Baby! Go!»
Glenn Quagmire