Das Urner Reusstal liegt noch zwischen blauen Bergen im Schatten, als der Lehrtochter des Metzgers um 7 Uhr in der Früh auf der schmalen Landstrasse in der Nähe von Wisi Zgraggens Bauernhof das Motorrad kaputtgeht.
Das Mädchen eilt durch den frischen Morgen die gewundene Zufahrtsstrasse hinauf, zum Hof der Zgraggens, und klingelt den Bauern aus dem Haus. Der 39-Jährige ist schon wach und zögert keine Sekunde und fährt sie zur Metzgerei. Ohne Arme.
Die Sonne ist mittlerweile hinter dem Bämleten hervorgekrochen, es ist warm geworden. Zgraggen sitzt auf der Terrasse der Scheune, über der seine Eltern einen Partyraum betreiben. Ob der Verwunderung darüber, wie er die Lehrtochter ins Dorf fahren konnte, hebt er nur kurz die Schultern. «Das Beste was mir passieren kann, ist wenn die Leute vergessen, dass ich keine Arme habe». Er hat sein Auto umbauen lassen, sodass er es mit einer Scheibe neben dem Bremspedal mit dem rechten Fuss steuern kann. Ein Haken, wo einst sein Arm war, tut den Rest.
Wisi Zgraggen will, dass ihm die Menschen so begegnen, wie sie jedem Menschen begegnen würden.
An diesem Spätsommermorgen empfängt Zgraggen eine Reihe Journalisten auf seinem Hof. Sie kommen wegen des neuen Buches, das Wisi Zgraggen als Helden bekanntmacht, als Bauern, der beide Arme verlor, sich deswegen aber «nicht behindern liess», den Hof der Eltern übernahm und es schaffte, ein erfolgreicher Landwirt zu werden.
Doch Wisi Zgraggen sieht sich nicht als Helden. Er redet viel lieber über seine Kühe, als über den Unfall mit der Rundballenpresse, die ihm vor fast 14 Jahren beide Arme stahl, und das Buch, das über ihn geschrieben wurde.
Die Begeisterung steht dem 39-Jährigen ins gebräunte Gesicht geschrieben, wenn er von seinen 50 Tieren erzählt, Dexter-Kühen, die schwarz, klein und stämmig sind, ohne Kraftfutter auskommen und köstliches Fleisch liefern sollen, das Wisi ab Hof verkauft. Noch hat erst eine kleine Gruppe den Alpabzug hinter sich, sie grasen auf Zgraggens hügeligen Wiesen. Mit einem Metallhaken, der den Stumpf seines linken Armes wenigstens ein bisschen verlängert, zeigt Wisi auf eine Kuhle zwischen den Rottannen.
Die Dexter-Kühe haben die Zgraggens erst, seitdem Wisi beim Unfall seine Arme verlor. Es war das Jahr 2002, der damals 25-Jährige war allein auf dem Feld, bediente die Rundballenpresse, die plötzlich klemmte. Wisi hantierte bei laufender Maschine, stolperte, das Ungetüm zog ihm einen Arm in die Walzen, und als er sich zu befreien versuchte, auch noch den zweiten.
Sein Vater eilte ihm zu Hilfe, stellte die Maschine auf Wisis Geheiss ab und wieder an, bis sich der Sohn schliesslich befreien konnte. Erst im Rega-Helikopter verlor er das Bewusstsein. Völlig zerfetzt seien die Arme gewesen, sagt Wisi, ohne die grässlichen Details auszulassen.
Dann schweigt er, blickt über die Stalldächer, und kratzt sich mit seinem Haken den Oberschenkel.
Nach dem Unfall habe er zwei Jahre gebraucht, sich den Fehler zu verzeihen. Dann habe er sich «auf sein Ziel fokussiert»: den Hof der Eltern zu übernehmen, drei- und vierfacher Vater zu werden, und: «wieder etwas wert zu sein». Es habe ihm geholfen, dass er immer gewusst habe, was er wolle. In das tiefe schwarze Loch, vor dem man ihn in der Rehabilitation warnte, ist er nie gefallen.
Also vereinfachten die Zgraggens den Hof, versteigerten die Milchkühe und kauften die weniger aufwändigen Dexter-Rinder. Der Plan ging auf, Zgraggens Familie schaffte es, mit nur kleinen Unterstützungsbeiträgen über die Runden zu kommen, Wisi erledigt heute viele Arbeiten selber, liefert Waren mit seinem Auto aus, kümmert sich um die Tiere und betreut Lehrlinge in der zweiten Ausbildung. Ohne seine Frau ginge das natürlich nicht, sie hält den Betrieb am laufen.
Ein normales Bauernleben.
Wisi Zgraggen sieht sich nicht als Helden, seinen unerschütterlichen Optimismus habe er schon immer gehabt, jetzt erst recht will er aber davon etwas weitergeben. Manchmal hält er Vorträge, er wird zu Veranstaltungen eingeladen, es gibt TV-Sendungen und Artikel über den Bauern. Jeder habe es verdient, seine Geschichte zu hören, sagt Wisi.
Dann sagt er: «Ich lebe halt einfach nach dem Motto ‹Geht nicht, gibt's nicht›.» Alles sei möglich, wenn man nur den Willen dazu habe. Was zähle, sei nur das Morgen.
Dieses bereite ihm allerdings manchmal Sorgen, sagt Zgraggen, der kein Schönfärber ist. Er betreibe Raubbau an seinem Körper, der Rücken «lödelet», ewig könne er nicht so weiterarbeiten. Vielleicht noch acht Jahre oder zehn. Doch auch dafür gibt es bereits eine Lösung: Der älteste Sohn will Landwirt werden und den Hof der Eltern eines Tages übernehmen.
Der letzte Schatten ist aus dem engen Tal gewichen. Da ruht er, Wisi Zgraggens Bauernhof, eingeklemmt zwischen Bälmeten und Rinderstock, an der schmalen Landstrasse. Der Blick zurück schweift über Äcker, bleibt an Geburtstafeln und Alpkäse-Schildern kleben und wird in der Ferne vom Bristen gestoppt.
Endstation.
Ein Wort, das Wisi Zgraggen fremd ist.