Simone Meier sitzt da wie jeden Morgen. In tadelloser Gradheit. Ein strammer Rücken in einem ozeanblauen Wollpulli mit weissen nordischen Müsterchen.
Sie hat eine Wahnsinnskörperhaltung. Nicht nur auf dem Barstuhl (man begutachte das Pressefoto weiter unten), auch auf dem Bürostuhl.
Sie ist die Einzige in diesem Garten der Krümme – der sich hochtrabend «Ressort Debatte» nennt –, die nicht am hinterletzten Ende des Stuhles sitzt, das Gesicht am Bildschirm klebend (Dani Huber), nicht kartoffelsackartig unter die Tischplatte sinkt (Anna Rothenfluh), nicht die Beine zum Lesen auf dem Fenstersims deponiert (Philipp Löpfe) und auch nicht im Stuhl liegt, als wär das hier ein Strand (Patrick Toggweiler).
Simone Meier ist ein Edelmensch. Sie sitzt ehrwürdig. Und das ist in den blauen, nach fünf Jahren diverser Füdli-Schaberei auf ihren Sitzflächen heller bis fleckig gewordenen Plastik-Geschwüren eine Leistung.
Gemeinhin geht nämlich jeder, der sich in sie reinsetzt, augenblicklich seiner Würde verlustig.
Nicht so Simone Meier.
Und jetzt denkt ihr: Nur weil diese Simone pfeifengerade sitzen kann, heisst das noch lange nicht, dass ihr Buch etwas taugt.
Richtig.
Aber ich kann euch sagen, dass ihr Buch ebenso aufrichtig ist wie ihr Rücken. Es hat nichts zurechtgebogen, es zeigt die Menschen in ihrer ganzen speziesbedingten Schrägheit. Und diese bettet Simone Meier dann in feinsinnig gewobene Brokatkissen-Sprache. Damit es ihre Figuren bequem haben, wenn sie sich in ihre nicht immer ganz legitimen Romanzen und wilden Amourösitäten hineinträumen.
Vielleicht ist der ganze «Kuss» eine verstohlene Liebeserklärung an die Fantasie, diese alles durchdringende Vorstellungskraft, die fähig ist, so lange mit ihren erdichteten Fingern im richtigen Leben herumzugrumseln, bis die eifrig eingebildeten und zurechtgezüchteten Gefühle dort plötzlich echt werden.
Aber das behaupte jetzt ich. Fragen wir also besser die Autorin selbst, was man so alles gefahrlos in ihr Buch hineininterpretieren kann.
Simone?
Okay, da willst du hin? Echt? Die Autorin erklärt, wie sie ihr Werk gern gelesen hätte?
Ja.
Also gut. Was mich interessierte, war das: Wenn wir uns in jemanden verlieben, ihn oder sie aber noch gar nicht richtig kennen, geht in unserem Kopf ja ein Sperrfeuer an Projektionen los. Wir ballern das Objekt unserer Begierde nur so mit Wunschdenken voll und produzieren dabei reine Fiktion. Wir schreiben quasi einen Roman. Und ich dachte plötzlich: Liebe und Literatur sind ja ganz ähnliche Verfahren. Damit habe ich gearbeitet. Einen sogenannten Gesellschaftsroman, gar einen kritischen, zu schreiben, war nicht meine Absicht. Aber hineininterpretieren darf man natürlich alles! Wir alle lesen das gleiche Buch ja jeweils ganz anders. Die unterschiedlichen Leseerfahrungen könnten Bibliotheken füllen.
Welches ist der schönste Satz, den du je geschrieben hast?
«Sein Herz schlug, wie jedes Herz, einzig um seiner selbst willen.» Keine Ahnung, ob das der schönste ist, aber sein Pathos-Gehalt ist gross.
Warum sollte man dein Buch lesen?
Weil es darin von schönen Sätzen nur so wimmelt. Aber auch von lustigen. Und weil wir alle schon einmal oder vielmal total aussichtslos verliebt waren.
Wäre dein Buch ein Lied, welches wäre es?
Auf jeden Fall ein französisches, melancholisches ... Oder «Schatteboxe» und «7:7» von Züri West ... Leider muss ich sagen, dass «Kuss» unter übelsten musikalischen Bedingungen entstanden ist. Meine Playlist während des Schreibens war über keinerlei Zweifel erhaben. Eine Gefühlsduselei um die andere ...
Birkenstock. Bist du grundsätzlich dafür?
Aha, beginnt wie «Buch» mit B! Sehr naheliegend! Mit 20 war ich dafür. Dann dagegen. Heute wieder dafür. Obwohl Heidi Klum mal eine Kollektion designt hat.
Wer ist dein Anti-Idol?
Jener Turnlehrer aus sehr jungen Jahren, der sagte: «Frauen Fussball beizubringen ist schlimmer als eine Kuh das Klettern zu lehren.»
Welchen Geruch magst du am liebsten?
Regen auf heissen Teer, Abgase in einem Parkhaus, frische Verveine ... und unbedingt diesen ganz einzigartigen Geruch, der lustigerweise bei allen Waschmitteln auf der ganzen Welt gleich ist und der aus Waschkellerfenstern auf die Strasse dringt.
Worüber kannst du stundenlang reden?
Darüber, wie ich mein Buch gemeint habe ... Und über schlechtes Fernsehen. Und das Gute und Böse an der Liebe.
Ein paar fiese Aliens sind im Begriff, die Welt zu zerstören. Was sagst du ihnen?
Yes, you can? Nein, ich würde natürlich wie Amy Adams im Film «Arrival» ihre Sprache analytisch durchdringen, unfassbar geschickt mit ihnen verhandeln und logischerweise die Welt retten.
Was ist der Vorteil am Tod?
Dass der Stress ein Ende hat.
Nehmen wir an, du könntest allen Katzen dieser Welt einen Befehl geben – und sie würden dir sogar gehorchen. Wie würde er lauten?
Bitte, rottet mein Angsttier aus! Ich sag aber nicht, welches. Es gäbe sonst irre Proteste.
Beende den Satz: Broccoli ist ...
... ein unterschätztes Gemüse! Allerdings muss man es pimpen. Am besten mit geschmolzenen Sardellen.
Wo liegt der Ruhm?
Im Schillern eines Tautropfens auf einer Rosenknospe .... nein, da sicher nicht. In der Liebe derer, die dich umgeben ... vielleicht! Aber ganz sicher in einer Krone, einem Nobelpreis, der Unsterblichkeit. Dinge, die wir alle ganz einfach erreichen können. Dann jedenfalls, wenn uns der Autosuggestions-Guru aus dem «Dschungelcamp» die richtigen Formeln beibringt.
Welches ist das grösste Tier, von dem du denkst, dass du es mit einem einzigen Schlag in eine ordentliche Ohnmacht schicken könntest?
Ich? Ein Tier? Ich fand im Turnunterricht schon Bälle zu gross, um draufzuschlagen, ehrlich. Viel lieber hätte ich sie getreten. Aber dem stand der Turnlehrer aus der Antwort von weiter oben ja aktiv im Weg.
Warum lautet der Plural von Ellenbogen nicht Ellenbögen?
Weil Ellenbögen zu sehr an den Zürcher Bögg erinnern? Oder an das Ding, das aus einer erkälteten Nase kommt?
Wozu wollen dich deine kriminellen Energien verleiten?
Haha! Aktuell konsumiere ich gerne Serienkiller-Serien. Und denk' immer mal wieder «interessante Gewaltästhetik», «hübscher Gedanke», «nachvollziehbar». Aber das ist natürlich die krasse Manipulation der Macher. Das bin nicht ich. Sicher nicht! Anna, fühlst du dich noch wohl neben mir?
Es geht ... Dinosaurier. Der Auferstehung würdig?
Ah, ein harmloses Thema, mit dem du mich von meinen Abgründen abzulenken versuchst!
Was macht dir Freude?
Liebe, Lob, Freunde, die mich schon lange kennen. Und was Feines zu essen, am liebsten vor dem Fernseher.
Was macht dich traurig?
Der Verlust von liebgewonnenen Menschen. Leute, die nicht grosszügig sind. Schlechtes Essen. Schlechte Texte (also von mir). Schlechtes Fernsehen nicht, im Gegenteil. Aber Dummheit (sehr oft meine), Klimakrise, Trump, Faschismus.
Wenn du etwas an deiner Erziehung ändern könntest, was wäre das?
Ich hätte mir bessere Manieren beigebracht. Mein Umgang mit Besteck zum Beispiel wirkt in gewissen Kreisen leicht handikapiert. Ich finde auch, ein Weinglas ansprechend zu halten, ist irrsinnig anstrengend. Und Henkeltassen. Darauf hätte man mich vorbereiten können. Und leider auch – auf Diplomatie. Die geht mir ab.
Erzähl' uns von deinem sonderbarsten Traum.
Ui! Davon gibt es gefühlte tausende. Aber der erste, an den ich mich erinnern kann, war, ist und bleibt auch der sonderbarste. Also, ich war ungefähr vier Jahre alt und ich träumte, dass sich mein Zimmer in einen Rosengarten verwandelt habe. Dort, wo normalerweise das Fenster war, stand ein antiker Schrank. Und in dem Schrank drin war eine WC-Schüssel. Mehr geschah nicht. Surreal und irgendwie wohl auch anal zugleich.
Zombies oder Vampire?
Vampire sind elegant. Zombies sind verwitterter Fleischkäse. Also Vampire.
Wenn du dich für zwei Stunden unsichtbar machen könntest, was würdest du tun?
Mich in unmittelbare Nähe von Superstars begeben. Sorry, ich bin in dieser Hinsicht cheap. Die Queen, Nicole Kidman und Adele fände ich nett. Die Kardashians oder Heidi Klum nicht.
Wofür gibst du zu viel Geld aus?
Da ich unvorstellbar reich bin, ist das völlig egal ... Nein, ich finde, die Waschmaschine in unserem Keller braucht zu viel Münz. Auch wenn sie macht, dass es auf der Strasse gut riecht.
Was hast du über deine Gene zu sagen?
Hmmmm ... Sie haben mir eine gewisse Breithüftigkeit und Sturköpfigkeit vermacht. Gegen beides ist schwer anzukommen.
Wie gross ist deine comfort zone?
Ich befürchte, sie ist ungefähr so klein wie ein Eichhörnli. Wie ein Einhörnli wär schon besser.