Nach zweieinhalb Kilometern macht der Lötschbergtunnel von Kandersteg nach Goppenstein eine Linkskurve. Damit der Zug nicht über die verschütteten 24 Mineure brettert, die bei der Sprengung vom 23. Juli 1908 um 02.30 ihr Leben liessen. Nur die Leiche von Vicenzo Aveni wurde gefunden.
Die anderen liegen immer noch im Berg, für immer begraben, zusammen mit vier Stollenpferden.
Hartnäckig begleitete der Tod den Bau der unterirdischen Schweiz. Und er holte sich die Italiener, die für uns im ersten Rausch des Tunnelfiebers zwischen 1872 und 1916 den Gotthard, den Albula, den Simplon und den Ricken, das Jungfraujoch, den Lötschberg, den Grenchenberg, den Mont d'Or und den Hauenstein durchstachen.
Der Arzt Pometta hat diese Worte gut gemeint. Da gab es andere Stimmen. Stimmen, die sich durch alle Jahrhunderte gleich gehässig anhören.
Diesen Schweizern waren die Fremden ein Dorn im Auge. Diese dreckigen Mineure, die in den Tunneldörfern von Göschenen, Airolo, Kandersteg, Grenchen oder Trimbach in ihren schäbigen Baracken hausten und für höchstens vier Franken im Tag im Berg schufteten. Die Arbeiter des ersten Eisenbahntunnels durch den Gotthard, die es 1875 wagten, für eine verbesserte Lüftung im Stollen und 50 Rappen mehr Lohn pro Tag zu protestieren.
Vier von ihnen wurden von einer Hilfspolizistengruppe erschossen. «Le massacre du Gotthard», das auf Wunsch des Bundesrates vom Urner Verhörrichter Joseph Anton Gisler derart zurechtgebogen wurde, dass es so aussah, als hätten die Streikenden Schusswaffen getragen.
Zur Rechenschaft gezogen wurde niemand. Und der Tunnel blieb weiterhin stickig.
Zeigten die Mineure Zerfallserscheinungen, wurden sie mit einem Handgeld von 100 Franken nach Hause geschickt, um dort – ohne weitere Kosten in der Schweiz zu verursachen – an ihrer Staublunge zu ersticken. Andere starben bei Arbeitsunfällen oder erlagen dem Typhus, der in den Arbeiterbaracken grassierte. Allein im April 1913 starben im Tunneldorf Tripolis bei Olten 35 Kinder.
«Die offiziellen Zahlen sind alle viel zu klein. Als wollte man sich wegen der Opfer die Freude nicht verderben lassen», schreibt Jost Auf der Maur. Es seien sicher 10'000 Tote zu beklagen. Und mindestens 50'000 blieben fürs Leben gezeichnet.
Der Psychiatrieprofessor Friz Schwarz aus Zürich sorgt sich um die seelische Verfassung der Bundesräte, sollte der Ernstfall wirklich eintreten und die sieben Landesköpfe mit ihrer Entourage Zuflucht finden im 3000 Quadratmeter grossen Bunker im Urner Dorf Amsteg.
Er verlangt in einem Brief vom März 1943 nach Bildern, die als Ersatz für die fehlenden Fenster dienen und eine «günstige psychologische Rückwirkung» entfalten sollten. Sofort wurde Ferdinand Hodlers «Rückzug aus Marignano» an die Wand des Sitzungszimmer gehängt.
Doch die Nazis kamen nicht. Der Ernstfall blieb aus.
Nur ein paar Sekretärinnen der Bundeskanzlei hatten die vaterländische Pflicht, im Oktober 1943 zu einer Fernschreibübung im Bunker anzutreten. Leider war es da drin nicht so heimelig wie gewünscht. Die Frauen beklagten sich über Atembeklemmungen, Dieselabgase, den Lärm der Ventilatoren. Und es «füechtele» fürchterlich.
Einmal noch kamen zwei Frauen für je drei Tage in den Brindli-Stollen, – wie der Bunker von den Einheimischen genannt wird –, um die 108 Wolldecken und 54 Matratzen heimlich zu sonnen.
Die Bundesräte selbst besuchten am 10. November 1945 ihren Fuchsbau, um sich dort mit Kalbsbraten, selber gemachten Kroketten und Gemüse die Bäuche vollzuschlagen. Der Krieg war vorbei, die Deutschen hatten ein halbes Jahr zuvor kapituliert.
«Celio, Nobs und Stampfli haben am Schluss beim Abtrocknen geholfen», erinnert sich Frau Tresch, die die hohen Herren als achtjäriges Mädchen bewirtet hatte. Von der Herberge Stern und Post aus, die nur fünf Minuten vom Brindli-Stollen entfernt liegt. Man wollte halt die unberührte Küche nicht dreckig machen.
Seine Funktion als unterirdischer Regierungssitz hat der Bunker bereits in den 50er Jahren verloren. Während des Kalten Krieges wurde K10 gebaut, das «Alpenrösli», in der Nähe von Brienz. Doch auch dieser Bunker genügte dem Bundesrat seit 1990 nicht mehr.
K20 wurde ins Kandersteg-Felsmassiv hineingemauert. 250 Millionen Franken kostete die bombensichere und autarke Anlage, in der 1000 Personen Platz finden. Dagegen wirkt der alte Brindli-Stollen geradezu bescheiden. Er wurde für 60 Personen gebaut. Mit 7,2 Millionen Franken.
Die Schweizer Armee hat aber noch viel Gigantischeres vor. Seit 2010 baut sie sich im Fels einen «virtuellen Feldherrenhügel» – «unter weitgehendem Verzicht transparenter Information der Öffentlichkeit», wie Jost von der Maur betont. Von da aus soll alles geführt, befehligt und kontrolliert werden. Nichts sollte diesem militärischen Argusauge entgehen: Kein feindliches Flugzeug und auch nicht der Standort und die Herzfrequenz jedes einzelnen Soldaten. Aus diesen ganzen hereinkommenden Informationen sollte dann ein «einheitliches Lagebild» entstehen.
Dieses elektronische System bekam den Namen NEO (Network Enabled Operations). Für Jost Auf der Maur ist es der «totale General». Eine Allmachtsphantasie, der amerikanische Traum der Informationsüberlegenheit, geträumt vom neutralen Kleinstaat Schweiz.
Zwischen 12 und 15 Milliarden kostet NEO, doch an der Urne wird darüber nicht abgestimmt: «Sicherheitshalber wird die Finanzierung über Jahre scheibchenweise und unter belanglosen Namen wie Immobilien im Parlament durchgewinkt», schreibt Auf der Maur. Die Eidgenössische Finanzkontrolle habe den Bundesrat bereits auf das hohe finanzielle und unklare technische Risiko hingewiesen. «Es droht ein Fiasko von bisher unerhörtem Ausmass», ist sich der Autor sicher.
Denn ein Teil des Projektes ist schon gescheitert. Das Teilstreitkräfteübergreifende Führungs- und Informationssystem der Schweizer Armee (FIS). Es sollte «die technologische Plattform zur Sicherstellung der vernetzten Operationsführung der unterstellten Kräfte des Chefs der Armee» werden. Aber es funktioniert nicht. Die Informationsmenge ist zu gross, sie überfordert die Zentrale, in der sie verarbeitet werden sollte. Das ersehnte «einheitliche Lagebild» bleibt eine verschwommene Wunschvorstellung – allerdings eine teure.
Jost Auf der Maur zeigt uns mit seinem Buch die Schweiz unter der Schweiz. Kein anderes Land hat in Relation zu seiner Landesoberfläche so viel unterirdisch gebaut. Unter dem Boden zu bauen, muss also eine schweizerische Eigenheit sein.
Sie sei eben praktisch, diese massive Infrastruktur unter der Erde, die uns ein solch reibungslos funktionierendes Land beschert, schreibt der Autor. Und praktisch – das sei in der Schweiz ja ein geradezu heiliges Wort.