Die Schweiz im Untergrund: Tunnel, Bundesratsbunker und militärische Allmachtsphantasien
Bild: KEYSTONE
Es ist die Geschichte vom starken Gedanken des Wehrhaftseins eines Landes, das vom Krieg verschont blieb. Und die von Tausenden Italienern, die für das reibungslose Funktionieren unseres Landes ihr Leben liessen. Jost Auf der Maur ist für sein Buch «Die Schweiz unter Tag» in die Unterwelt hinabgestiegen.
Nach zweieinhalb Kilometern macht der Lötschbergtunnel von Kandersteg nach Goppenstein eine Linkskurve. Damit der Zug nicht über die verschütteten 24 Mineure brettert, die bei der Sprengung vom 23. Juli 1908 um 02.30 ihr Leben liessen. Nur die Leiche von Vicenzo Aveni wurde gefunden.
Die anderen liegen immer noch im Berg, für immer begraben, zusammen mit vier Stollenpferden.
Mineure beim Festklemmen der Bohrsäule am Boden und Gewölbe im Lötschbergtunnel, 1912.bild: Archiv BLS
Hartnäckig begleitete der Tod den Bau der unterirdischen Schweiz. Und er holte sich die Italiener, die für uns im ersten Rausch des Tunnelfiebers zwischen 1872 und 1916 den Gotthard, den Albula, den Simplon und den Ricken, das Jungfraujoch, den Lötschberg, den Grenchenberg, den Mont d'Or und den Hauenstein durchstachen.
«Die gesunde und kräftige Konstitution des italienischen Arbeiters, seine Genügsamkeit, die Leichtigkeit, mit welcher er die Tunnelhitze erträgt, und die relativ bescheidenen Lohnansprüche kommen daher sehr in Betracht. Ist er einmal an der Arbeit, so ist es eine Freude, zuzusehen, wie der Mann sich derselben anpassen kann, und wie das Werk rasch und sicher vorwärtskommt. Trotz seiner primitiven Schulbildung oder besser gesagt, trotz keiner Schulbildung, zeigt er sich im Allgemeinen sehr intelligent. Die meisten haben sich eben früh an die Arbeit gewöhnt, denn leider ist dem Italiener noch nicht recht begreiflich, dass KInder unter 16 Jahren geschont werden müssen.»
Aus der Dissertation des Schweizer Arztes Daniele Pometta
Gruppenfoto der Bohr-und Vermessungsequipe am Südportal des im Jahre 1903 fertiggestellten 5865 Meter langen Albulatunnels, der das Hochtal von Preda und das Val Bever verbindet.Bild: KEYSTONE
Der Arzt Pometta hat diese Worte gut gemeint. Da gab es andere Stimmen. Stimmen, die sich durch alle Jahrhunderte gleich gehässig anhören.
«Gartenbesitzer klagen, dass dieses Pack sogar am frühen Morgen in die Gärten eindringe und daselbst Amsel- und Starenbruten stehle. Wir dürfen wohl erwarten, dass unsere Polizei dem Unwesen steuert und dass die Gerichte, sobald sie Gelegenheit dazu haben, ein Beispiel statuieren, dass diesen Leuten, denen unsere Sitten und Anschauungen bekanntlich schnuppe sind, längere Zeit im Gedächtnis bleiben.»
Im Oltner Tagblatt, 1913. Tripolis bei Olten in der Gemeinde Trimbach war eines der Tunneldörfer, in dem 2500 Menschen in 95 Häusern unter widrigsten Umständen wohnten. Sie bauten den Hauenstein-Basistunnel Tecknau-Olten.
Diesen Schweizern waren die Fremden ein Dorn im Auge. Diese dreckigen Mineure, die in den Tunneldörfern von Göschenen, Airolo, Kandersteg, Grenchen oder Trimbach in ihren schäbigen Baracken hausten und für höchstens vier Franken im Tag im Berg schufteten. Die Arbeiter des ersten Eisenbahntunnels durch den Gotthard, die es 1875 wagten, für eine verbesserte Lüftung im Stollen und 50 Rappen mehr Lohn pro Tag zu protestieren.
Familie Gandolfo vor ihrem Laden in Tripolis bei Grenchen, einem weiteren Tunneldorf, in dem die hygienischen Zustände durch den sozial verantwortungsbewussten Gemeinderat weitaus besser waren. Jeder Mineur hatte sein eigenes Bett.bild: wicki-stadtgeschichte grenchen
Vier von ihnen wurden von einer Hilfspolizistengruppe erschossen. «Le massacre du Gotthard», das auf Wunsch des Bundesrates vom Urner Verhörrichter Joseph Anton Gisler derart zurechtgebogen wurde, dass es so aussah, als hätten die Streikenden Schusswaffen getragen.
Zur Rechenschaft gezogen wurde niemand. Und der Tunnel blieb weiterhin stickig.
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Der Gotthard-Scheiteltunnel
So sollte das Nordportal des Gotthardtunnels gemäss diesem Entwurf aus dem Jahr 1875 aussehen. Erste Pläne für eine alpenquerende Bahn kamen schon in den 1840er Jahren auf.
Zeigten die Mineure Zerfallserscheinungen, wurden sie mit einem Handgeld von 100 Franken nach Hause geschickt, um dort – ohne weitere Kosten in der Schweiz zu verursachen – an ihrer Staublunge zu ersticken. Andere starben bei Arbeitsunfällen oder erlagen dem Typhus, der in den Arbeiterbaracken grassierte. Allein im April 1913 starben im Tunneldorf Tripolis bei Olten 35 Kinder.
«Die offiziellen Zahlen sind alle viel zu klein. Als wollte man sich wegen der Opfer die Freude nicht verderben lassen», schreibt Jost Auf der Maur. Es seien sicher 10'000 Tote zu beklagen. Und mindestens 50'000 blieben fürs Leben gezeichnet.
«Das sind Zahlen wie aus einem Krieg. Die Menschen, die diesen ‹Krieg› für uns bestritten haben, kamen aus dem Ausland. Es wäre an der Zeit, dass wir für sie eine Stätte des Dankes und des Gedenkens einrichten.»
Jost Auf der Maur
Ein paar interessante Zahlen für Zwischendurch
Alle theoretisch begehbaren unterirdischen, künstlich angelegten Tunnels ergäben heute aneinandergereiht eine Röhre von Zürich bis Teheran, 3750 Kilometer lang. In Relation zur Landoberfläche ist das unerreicht.
Der grösste Teil der unterirdischen Bauten dient nicht der Armee (250 km), sondern der Wasserkraft (803 km), dem Verkehr (1238 km), dem Zivilschutz (ca. 1200 km), der Forschung (50 km) und dem klassischen Bergbau (300 km).
Für 115 Prozent der Bevölkerung gibt es einen unterirdischen Zivilschutzplatz. In keinem anderen Land ist das Soll übererfüllt.
Das gesamte herausgebrochene Material würde einen Güterzug von mehr als 10'000 Kilometern Länge füllen. Wäre der Zug mit 60 km/h unterwegs, bliebe die Barriere eines Bahnübergangs sieben Tage lang geschlossen.
Jost Auf der Maur – «Die Schweiz unter Tag»
Schatzkammern, Wasserkraftwerke, Hightechlabors, Spitäler, Verkehrstunnel, der Bundesratsbunker und geheime Kavernen. Jost Auf der Maur dringt mit seiner warmen Schreibe ein in diese geheimnisvoll verdunkelte Unterwelt und zupft mit seinen feinen Fingern alles eigentümlich Schweizerische heraus, um es für uns ans Tageslicht zu befördern. Es ist die Geschichte vom starken Gedanken des Wehrhaftseins, von kostspieligen Allmachtsphantasien der Schweizer Armee und Tausenden Italienern, die für das reibungslose Funktionieren unseres Landes ihr Leben liessen. «Die Schweiz unter Tag» ist beim Echtzeit-Verlag erschienen und hier erhältlich. Veranstaltungen mit dem Autor: Luzern, 10. Mai: Zivilschutzanlage Sonnenberg Chur, 11. Mai: Theater Chur St.Gallen, 18. Mai: Club Palace Bern, 8. Juni: Alpines Museum
Der Bundesratsbunker: Für den Fall, dass die Nazis kommen
Das Landgasthof-Gemütlichkeit simulierende Sitzungszimmer für die sieben Bundesräte und den Kanzler. bild: armeefotodienst, bern
Der Psychiatrieprofessor Friz Schwarz aus Zürich sorgt sich um die seelische Verfassung der Bundesräte, sollte der Ernstfall wirklich eintreten und die sieben Landesköpfe mit ihrer Entourage Zuflucht finden im 3000 Quadratmeter grossen Bunker im Urner Dorf Amsteg.
Er verlangt in einem Brief vom März 1943 nach Bildern, die als Ersatz für die fehlenden Fenster dienen und eine «günstige psychologische Rückwirkung» entfalten sollten. Sofort wurde Ferdinand Hodlers «Rückzug aus Marignano» an die Wand des Sitzungszimmer gehängt.
Der Haupteingang zum Bundesratsbunker bei Amsteg.bild: armeefotodienst, bern
Doch die Nazis kamen nicht. Der Ernstfall blieb aus.
Nur ein paar Sekretärinnen der Bundeskanzlei hatten die vaterländische Pflicht, im Oktober 1943 zu einer Fernschreibübung im Bunker anzutreten. Leider war es da drin nicht so heimelig wie gewünscht. Die Frauen beklagten sich über Atembeklemmungen, Dieselabgase, den Lärm der Ventilatoren. Und es «füechtele» fürchterlich.
Einmal noch kamen zwei Frauen für je drei Tage in den Brindli-Stollen, – wie der Bunker von den Einheimischen genannt wird –, um die 108 Wolldecken und 54 Matratzen heimlich zu sonnen.
Schlafzimmer der Kategorie Bundesrat. Für die Beamten wurden Zweierzimmer gebaut, das Dienstpersonal sollte auf Kajütenbetten schlafen.bild: armeefotodienst, bern
Die Bundesräte selbst besuchten am 10. November 1945 ihren Fuchsbau, um sich dort mit Kalbsbraten, selber gemachten Kroketten und Gemüse die Bäuche vollzuschlagen. Der Krieg war vorbei, die Deutschen hatten ein halbes Jahr zuvor kapituliert.
«Celio, Nobs und Stampfli haben am Schluss beim Abtrocknen geholfen», erinnert sich Frau Tresch, die die hohen Herren als achtjäriges Mädchen bewirtet hatte. Von der Herberge Stern und Post aus, die nur fünf Minuten vom Brindli-Stollen entfernt liegt. Man wollte halt die unberührte Küche nicht dreckig machen.
Walther Stampfli, der auch als «Vater der AHV» bezeichnet wird. Womöglich mit leerem Magen.Bild: AP
Seine Funktion als unterirdischer Regierungssitz hat der Bunker bereits in den 50er Jahren verloren. Während des Kalten Krieges wurde K10 gebaut, das «Alpenrösli», in der Nähe von Brienz. Doch auch dieser Bunker genügte dem Bundesrat seit 1990 nicht mehr.
K20 wurde ins Kandersteg-Felsmassiv hineingemauert. 250 Millionen Franken kostete die bombensichere und autarke Anlage, in der 1000 Personen Platz finden. Dagegen wirkt der alte Brindli-Stollen geradezu bescheiden. Er wurde für 60 Personen gebaut. Mit 7,2 Millionen Franken.
Am 30. April 1986 beschliesst der Bundesrat im Geheimen, K20 zu bauen. Der Bunker liegt am Eingang zum Gasterntal an der Kander im Kanton Bern.bild: wikimedia
«Der totale General»
Die Schweizer Armee hat aber noch viel Gigantischeres vor. Seit 2010 baut sie sich im Fels einen «virtuellen Feldherrenhügel» – «unter weitgehendem Verzicht transparenter Information der Öffentlichkeit», wie Jost von der Maur betont. Von da aus soll alles geführt, befehligt und kontrolliert werden. Nichts sollte diesem militärischen Argusauge entgehen: Kein feindliches Flugzeug und auch nicht der Standort und die Herzfrequenz jedes einzelnen Soldaten. Aus diesen ganzen hereinkommenden Informationen sollte dann ein «einheitliches Lagebild» entstehen.
«Das Schlachtfeld Schweiz auf Breitleinwand, und davor der Gerneralstab an einer gigantischen Playstation, tief unter der Erde.»
Jost Auf der Maur
Dieses elektronische System bekam den Namen NEO (Network Enabled Operations). Für Jost Auf der Maur ist es der «totale General». Eine Allmachtsphantasie, der amerikanische Traum der Informationsüberlegenheit, geträumt vom neutralen Kleinstaat Schweiz.
Bundesrat Paul Chaudet (1904-1977), Vorsteher des Militäerdepartements fährt in einem Panzer der Schweizer Armee, 1959.Bild: KEYSTONE
Zwischen 12 und 15 Milliarden kostet NEO, doch an der Urne wird darüber nicht abgestimmt: «Sicherheitshalber wird die Finanzierung über Jahre scheibchenweise und unter belanglosen Namen wie Immobilien im Parlament durchgewinkt», schreibt Auf der Maur. Die Eidgenössische Finanzkontrolle habe den Bundesrat bereits auf das hohe finanzielle und unklare technische Risiko hingewiesen. «Es droht ein Fiasko von bisher unerhörtem Ausmass», ist sich der Autor sicher.
Denn ein Teil des Projektes ist schon gescheitert. Das Teilstreitkräfteübergreifende Führungs- und Informationssystem der Schweizer Armee (FIS). Es sollte «die technologische Plattform zur Sicherstellung der vernetzten Operationsführung der unterstellten Kräfte des Chefs der Armee» werden. Aber es funktioniert nicht. Die Informationsmenge ist zu gross, sie überfordert die Zentrale, in der sie verarbeitet werden sollte. Das ersehnte «einheitliche Lagebild» bleibt eine verschwommene Wunschvorstellung – allerdings eine teure.
Warum baut die Schweiz so viel im Untergrund?
Jost Auf der Maur zeigt uns mit seinem Buch die Schweiz unter der Schweiz. Kein anderes Land hat in Relation zu seiner Landesoberfläche so viel unterirdisch gebaut. Unter dem Boden zu bauen, muss also eine schweizerische Eigenheit sein.
Kontrollraum des Versuchsatomkraftwerks Lucens, VD, 1968. Eine weitere Station auf Jost Auf der Maurs Reise durch den Schweizer Untergrund. 1969 schmolzen Teile eines Brennelementes, worauf das Druckrohr barst. Wegen der schweren Schäden am Reaktor ist das Versuchsatomkraftwerk seither geschlossen.bild: wikimedia
«Wir sind ein Land der Agoporaphobie, der Platzangst, ein Land, das sich vor der haltlosen Weite des Platzes und der Weite der Welt fürchtet und sich darum vertrauensvoll dem Untergrund zuwendet.»
Jost Auf der Maur
Sie sei eben praktisch, diese massive Infrastruktur unter der Erde, die uns ein solch reibungslos funktionierendes Land beschert, schreibt der Autor. Und praktisch – das sei in der Schweiz ja ein geradezu heiliges Wort.
Von Osterstau keine Spur: Als es am Gotthard noch gemütlich zu und her ging
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Von Osterstau keine Spur: Als es am Gotthard noch gemütlich zu und her ging
1962, Rekordverkehr am Gotthard. Kaum zu glauben, aber wahr: Bis ins Jahr 1980 gab es noch keinen Strassentunnel durch den Gotthard. Es gab nur einen Weg – über den Pass. (Bild: Comet Photo AG)
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Die beliebtesten Kommentare
StefanZaugg
26.04.2017 21:15registriert September 2015
Für mich ist's immer heikel, mit nachträglicher Einsicht die damaligen Beweggründe zu beurteilen und zu werten. Heute wissen wir, dass keine weder von den Nazis noch von den Russen eine Invasion stattgefunden hat, aber damals war das eine berechtigte Angst, wovor man sich schützen wollte. Eine starke militärische Verteidigung gehörte dazu, und in einem gebirgen Land wie die Schweiz sind Bunker halt eine einleuchtende militärische Entscheidung.
Spannende Buchrezension zumal ich einige der besagten Bunkern bereits von innen gesehen habe. Das FIS Heer funktioniert nebenbei bemerkt schon, aber nur auf stationärer Basis. Ursprünglich wollte man es auch mobil benutzen, nur dafür hat die Armee zu lahme mobile Datenübertragung. Das Problem ist nicht FIS an sich; sondern dass der Funk und Richtstrahl max 56 kb Datenpakete versenden kann, was nicht einmal wirklich für ein Worddokument reicht, geschweige denn die Führung im Playstationmodus.
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