Nach der von Gewalt überschatteten Stichwahl um das Präsidentenamt droht Afghanistan ein wochenlanges politisches Vakuum. Während Ex-Aussenminister Abdullah Abdullah die Angaben der Wahlkommission zum Verlauf der Abstimmung anzweifelte, reklamierte sein Gegenkandidat, der frühere Weltbank-Experte und Ex-Finanzminister Aschraf Ghani, bereits den Sieg für sich.
Die Bekanntgabe des Endergebnisses ist für den 22. Juli geplant, die Amtseinführung des neuen Präsidenten soll am 2. August stattfinden. Die Beteiligung lag nach Angaben der Wahlkommission (IEC) trotz Todesdrohungen der Taliban bei rund 60 Prozent – und damit deutlich über den Erwartungen. Die islamisch-fundamentalistischen Taliban hatten damit gedroht, die Abstimmung, die den ersten demokratischen Machtwechsel in der Geschichte des Landes markieren soll, mit Angriffen zu verhindern.
Die Stichwahl wurde von Anschlägen, Angriffen und Gefechten mit etwa 250 Toten begleitet. Nach Angaben von Ministerien und Provinzbehörden wurden am Wahltag 176 Aufständische, 44 Zivilisten und 29 Angehörige der Sicherheitskräfte getötet. Der Samstag war damit der blutigste Wahltag in Afghanistan seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001.
Die Regierung setzte 400'000 Sicherheitskräfte ein, um Wähler und Wahllokale zu schützen. Aufständische verübten 273 Angriffe und Anschläge, um die Wahl zu stören, wie das Verteidigungsministerium am Sonntag mitteilte. Bei der ersten Wahlrunde am 5. April registrierte das Innenministerium 140 Angriffe und Anschläge.
Taliban-Extremisten hackten elf Menschen die Finger ab als Strafe für die Teilnahme an der Wahl, die die Extremisten als Täuschungsinszenierung der USA ablehnen. Das Innenministerium zählte insgesamt Hunderte Angriffe. Dabei wurden auch Sprengsätze und Raketen eingesetzt.
Dennoch wagten sich nach Angaben von Wahlkommissionschef Ahmed Jusuf Nuristani am Samstag mehr als sieben Millionen der zwölf Millionen Wahlberechtigten in die Stimmlokale. Abdullah zweifelte dies jedoch an. Er könne sich nicht vorstellen, dass die Zahl richtig sei, sagte er. Bereits im Vorfeld hatten er und Ghani den Wahlorganisatoren wiederholt vorgeworfen, unfähig und parteiisch zu sein.
Nach Schliessung der Wahllokale sagte Ghani, er habe offenbar gewonnen. Er berief sich dabei auf eigene Schätzungen. In der ersten Runde Anfang April hatte er 14 Punkte weniger Stimmen erhalten als Abdullah, der auf 45 Prozent kam. Für einen Sieg hätte dieser jedoch mehr als 50 Prozent benötigt. Bei der Stichwahl galt Abdullah dennoch als Favorit. Doch wer letztendlich das Rennen machte, lässt sich nicht prognostizieren. Umfragen lagen nicht vor.
Sollte das Ergebnis knapp ausfallen und Betrugsvorwürfe laut werden, schliessen Beobachter nicht aus, dass es zu einem politischen Stillstand und erbitterten Machtkampf mit ethnischen Zügen kommen könnte. Ghani ist Paschtune, Abdullah steht der tadschikischen Minderheit näher.(dwi/whr/sda/reu)