Christine Brand: In diesem Buch erzähle ich Kriminalfälle, die wirklich passiert sind. Das sind alles Geschichten, über die ich als Gerichtsreporterin berichtet habe. Im Buch hatte ich jedoch anstelle von zwei Zeitungsseiten 50 Buchseiten Platz. Ich konnte mir Zeit nehmen, um mit den Opfern zu sprechen – manche meiner Geschichten sind aus deren Perspektiven erzählt. Im Buch habe ich sechs grössere Fälle aus der Schweiz neu aufgegriffen.
Wahre Verbrechen packen und erschüttern die Leute vielfach extrem. Im Vergleich zu meinen fiktiven Geschichten bewegen sie daher mehr. Aber nicht alle Menschen halten sie aus.
«Der Feind» ist ein fiktiver Roman, in dem aber sehr viel Wahrheit steckt. Ich würde sehr gerne sagen, dass alles darin erfunden ist. Das ist aber leider nicht der Fall. Darin werden Themen wie Frauenhass oder «Incels», also unfreiwillig zölibatär lebende, meist junge Männer mit grossem Minderwertigkeitskomplex, behandelt. Ein «Incel» begeht ein Attentat auf die Frauendisco in der Reitschule in Bern.
Die Reitschule kam mir mehr aufgrund des Themas in den Sinn – ich wusste, dass ich das Thema Frauenhass aufgreifen wollte. Meiner Ansicht nach wird Frauenhass noch viel zu sehr totgeschwiegen in der Gesellschaft. Da ich als junge Frau einige Male in der Frauendisco war, kam mir dieser Ort sofort in den Sinn. So kam es, dass ich die Disco erneut aufgesuchte. Ich habe mich umgesehen und dachte: «Ja, hier passiert es».
Der amerikanische Autor T.C. Boyle sagte einst, es gebe einen Unterschied zwischen Autoren, die vorher Journalist waren und solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Ein Autor, der nie Journalist war, kann einen Roman schreiben, der in Alaska spielt – obwohl er nie vor Ort war. Ich war 25 Jahre lang als Journalistin tätig – daher beschreibe ich die Szenen auch so genau wie möglich. Mir fällt es so leichter.
Ja, es gab komische Momente – allerdings sind die erst im Nachhinein in meine Bücher eingeflossen. Als ich noch für das SRF gearbeitet habe, bin ich einmal stundenlang in einem Busch gesessen, weil ich gewusst habe, dass ein Holocaust-Leugner dort ein Sommerlager durchführt. Ich bin so lange hinter diesem Busch gesessen, bis ein alter Mann mir auf die Schulter getippt hat und gefragt hat, was ich hier eigentlich tue.
Ich schreibe ganz langweilig und beginne mit der Seite 1 – also chronologisch. Manchmal passiert es, dass mir eine Idee kommt, mit der ich nicht gerechnet hätte. Das kann dann in eine andere Richtung und zu Änderungen im vorderen Teil des Buches führen. Aber am einfachsten fällt es mir wirklich, von A bis Z zu schreiben. Ich bin eine sehr intuitive Schreiberin und schreibe nicht geplant. Wenn die Leute mir sagen, meine Bücher seien strukturiert, muss ich immer lachen.
Ich denke, pro Buch ist es ungefähr ein halbes Jahr: vier Monate Schreiben, zwei Monate Überarbeitung. Wegen der Lesepausen zieht es sich in die Länge und wird etwa zu einem Dreivierteljahr.
Ich habe etwa sieben Bücher, die ich wahnsinnig gerne schreiben würde, aber ich komme fast nicht hinterher (lacht). Ich habe einfach zu viele Ideen und meine Finger sind einfach zu langsam, um diese alle zu verschriftlichen. Ich bin nicht am Leiden – zu schreiben ist noch immer ein Vergnügen. Aber meine Arbeit ist auch ein stetiger Rhythmuswechsel: Gerade habe ich viele Termine, aber ab November fliege ich zurück auf meine Insel und habe während 5,5 Monaten keinen einzigen Termin. Dann werde ich voll Zeit zum Schreiben haben – das ist die schöne Seite des Autorinnenlebens.
Ja. Bei «Der Feind» bin ich nahe an diese Grenze gekommen. In der Regel ist die Recherche für ein Buch ein Vergnügen. Bei «Der Feind» war das nicht der Fall: Ich bin tief in die «Incel»-Thematik eingetaucht. Ich war in Foren unterwegs, habe Bücher darüber gelesen und Dokumentationen gesehen. Dabei bin ich so viel Hass begegnet, dass ich erleichtert war, als ich mit den Recherchearbeiten fertig war. Daher glaube ich nicht, dass ich ganz blutrünstige Sachen schreiben könnte – da halte ich mich in der Regel eher zurück und überlasse ich lieber anderen Krimiautorinnen und -autoren.
Im zweiten Teil des Interviews gibt Christine Brand tiefe Einblicke in Ihre Arbeit als Autorin, erzählt von Ihren persönlichen Grenzen beim Schreiben und beleuchtet, warum das Autorinnen-Dasein nicht nur aus Schreiben besteht.