Was soll dieser rote Fleck am Arm, der seit Tagen nicht mehr verschwinden will? Was hat es mit den Unterleibsschmerzen auf sich? Könnten die diffusen Kopfschmerzen nicht Anzeichen eines Hirntumors sein? Die vermeintlichen Antworten sind nur einen Klick entfernt und rund um die Uhr verfügbar. Sie bilden den Nährboden für alle möglichen Krankheitsfantasien. Dafür hat sich mittlerweile sogar ein Fachbegriff etabliert: «Cyberchondrie», das ist sozusagen die digitale Schwester der Hypochondrie.
Gemäss Brian Fallon, Professor für Psychiatrie an der Columbia University in New York, der den Begriff geprägt hat, sind 80 Prozent aller Hypochonder auch Cyberchonder. Zu gross sind die Verlockungen, in den Tiefen des World Wide Web eine Antwort auf die Symptome zu finden; das Internet ist die perfekte Fundgrube, um aus jeder noch so kleinen Veränderung am Körper eine Krebserkrankung oder drohenden Herzinfarkt hineinzuinterpretieren.
So sehr das Internet im Bereich der Gesundheit tatsächlich Wissen demokratisiert hat, so sehr läuft man Gefahr, sich als medizinischer Laie mit Dr. Google in der Ursachenforschung zu verlieren. Und womöglich viele unnötige Arztbesuche vorzunehmen oder Ärztinnen und Ärzten den letzten Nerv zu rauben.
Im Netz kursiert ein Schriftzug aus dem Wartezimmer einer Arztpraxis. Diese lässt ihre Patientinnen und Patienten mit einer grossen Portion Humor wissen: «Patienten, die eine Diagnose bereits über Google bezogen haben, werden gebeten, die Zweitmeinung nicht bei uns, sondern bei Yahoo einzuholen.»
Lustig ist das Ganze aber tatsächlich nur auf den ersten Blick. Denn die digitalen Selbstdiagnosen können bis hin zu Panikattacken führen oder depressive Stimmungen auslösen. Häufig auch sind hypochondrische Ängste Begleitphänomene von Angsterkrankungen und Depressionen. Im schlimmsten Fall experimentieren die Betroffenen mit unpassenden Behandlungsmethoden. Die Psychologin Gaby Bleichhardt, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philipps-Universität Marburg, hat sich intensiv mit dem Phänomen der Hypochondrie auseinandergesetzt. Hypochonder würden dazu neigen, sich selbst dann mit den Krankheitsängsten zu beschäftigen, wenn sämtliche medizinischen Abklärungen Entwarnung geben. Nach einer ersten möglichen Beruhigung tauchen schon bald Fragen auf wie: Hat die Ärztin etwas übersehen? Ist gründlich genug untersucht worden?
Wie auch immer die körperlichen Symptome seien, Hypochonder würden diese als intensiv, schädlich und beeinträchtigend wahrnehmen. Die Beschwerden verstärkten sich alleine durch die enorme Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den Körper. Es handelt sich um einen Teufelskreis: Körperbezogene Aufmerksamkeit führe zu einer verstärkten Wahrnehmung körperlicher Empfindungen, schreibt Gaby Bleichhardt in ihrem Standardwerk «Hypochondrie und Krankheitsangst».
Wächst die Überzeugung, man könne eine ernsthafte Krankheit haben, werden die potenziellen Krankheitssymptome umso genauer beobachtet. Dadurch würden sich zunehmend vermeintliche Belege für die Krankheitshypothese finden. Die meisten Hypochondrie-Patienten hätten Angst vor Krebs, gefolgt von Herz-Kreislauf- und neurologischen Erkrankungen.
Im norwegischen Bergen gibt es sogar eine Spezialklinik für Hypochonder. Dort lernen Patientinnen und Patienten, mit ihren Ängsten besser umzugehen und sich nicht mehr in allen möglichen dramatischen Szenarien zu verlieren. Der emeritierte Professor Ingvard Wilhelmsen, der die Klinik gegründet hat, benennt den Kern des Problems: «Hypochonder wollen den Tod kontrollieren».
Entsprechend beobachten sie ihren Körper mit einer Präzision, die ihresgleichen sucht – ihr ganzes Denken und Fühlen ist davon bestimmt. Die Verhaltenstherapie ziele darauf, die Sterblichkeit zu akzeptieren. «Dann können sie ihre Zeit mit leben verbringen, statt mit nichtsterben», bringt er es auf den Punkt.
Die Psychologin Gaby Bleichhardt geht davon aus, dass Phasen erhöhter Belastung in Berufs- und Privatleben die Tendenzen zur Hypochondrie verstärken, aber auch tatsächliche Krankheits-, Verlust- oder Bedrohungserfahrungen. Einen ähnlichen Schluss lassen auch die Resultate der CSS Gesundheitsstudie zu. So hat sich in der Corona-Pandemie nicht nur das allgemeine Gesundheitsempfinden verschlechtert. Verändert hat sich auch das Bewusstsein für die Folgen eigener schwerer Erkrankungen und Unfälle; erlebte Krankheiten führen heute häufiger zu einem Bewusstseinswandel als noch vor zwei Jahren. 17 Prozent gaben an, dass sie aufgrund einer Erkrankung ängstlicher geworden sind. 2020 waren es erst 11 Prozent.
Es greift generell zu kurz, Hypochonder als Simulanten abzustempeln, zumal ihren Ängsten durchaus reale Erfahrungen zugrunde liegen können. Die Psychologin und Psychotherapeutin Franca Cerutti sagt treffend: «Hypochonder denken sich Krankheiten nicht aus, sondern sie gehen davon aus, dass sie wirklich unter einer Krankheit leiden.» Worunter sie aber tatsächlich leiden, ist die Angst vor der Krankheit. Die Möglichkeit, sich jederzeit alle möglichen Symptome ergoogeln zu können, trägt eben nicht zur Entspannung bei. Kein Wunder, fühlen sich viele nach der Online-Recherche schlechter als vorher. Laut Cerutti fürchten rund 5 Prozent aller Menschen, unentdeckt schwer erkrankt zu sein.
Aber nicht jeder, der Symptome googelt, wird automatisch zum Cyberchonder. Entscheidend ist überdies, einen bewussten Umgang mit Informationen und Quellen im Internet zu pflegen. Um das enorme Wissen, das online verfügbar ist, verantwortungsbewusst im Sinne der eigenen Gesundheit zu nutzen, ist eine minimale Medien- und Gesundheitskompetenz entscheidend. Das minimiert das Risiko, Falschinformationen oder Halbwahrheiten aufzusitzen.