Vor einigen Tagen hat meine Tochter damit begonnen, Ausflüge mit ihrem kleinen Bruder zu unternehmen. Seit sie zuhause entdeckt hat, dass er sich ohne zu murren von ihr in den Lauflernwagen setzen und herumfahren lässt, geht sie jeden Abend bei schönem Wetter auf Erkundungstouren.
Packt ein paar Sachen für Theo, deckt ihn zu und schiebt ihn munter auf ihn einschwatzend die Einfahrt hinunter. «Und heute besuchen wir meine Freundin. Wirst schon sehen, das gefällt dir. Die hat sogar eine Katze. Miau, miau.»
Theo gluckst zufrieden. Vier Holzräder knirschen auf den Asphalt, als Emma Theo in die Kurve legt. «Juhuuu, mit Schmackes!» ruft sie. Mein acht Monate altes Baby quietscht vor Vergnügen. Weg sind sie.
Und ich? Ich breche nicht etwa in Panik aus oder falle in Ohnmacht, sondern freue mich darüber, mit wie viel Spass die beiden losziehen. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich finde es super, dass ich und die Chefin von der Rasselbande mal für 20 Minuten nicht zuständig sind.
Emil, mein Achtjähriger, sitzt wahrscheinlich gerade auf irgendeinem Baum so weit oben wie nur irgend möglich, damit «seine Gedanken auch mal Luft bekommen», wie er zu sagen pflegt. So weit oben also, dass mir bei seinem Anblick schwindelig werden und eben jene Luft wegbleiben würde.
Ich bin, wie ich verschiedentlich schon berichtet habe, ein ziemlicher Schisser, was meine beiden grossen Kinder anbelangt. Das liegt nicht zuletzt auch an meiner Vorstellungskraft, die, wenn ich nicht genug schreibe und mich ihrer damit für eine Weile entledige, einfach Amok läuft.
Die sich in Bildern von Haushaltsunfällen, grausamen Menschen, Naturkatastrophen und anderen Unwägbarkeiten verliert. Und zwar sehr detailreich. Mit der Zeit habe ich zwar gelernt damit umzugehen und in diesem endlosen Wald furchtbarer Möglichkeiten sehr laut zu pfeifen, bis alles vorüber ist, aber es bedarf immer noch einer deutlichen Anstrengung, um meinen Sorgen nicht zu erlauben, meinen Verstand am Ast des nächstbesten Baumes dieses Waldes aufzuknüpfen.
Sagen wir einfach in meinem Kopf ist Platz genug für zu viele Variationen von dieser nur schwer auszuhaltenden Szene in Lars von Triers Antichrist (die Eltern haben Sex im Badezimmer, während der Sohn aus dem Fenster stürzt).
Warum also stört es mich so überhaupt nicht, wenn Emma mit Theo durch die Nachbarschaft zieht? Gut, er ist mein drittes Kind. Da hat man sich allgemein ein bisschen beruhigt, weil man über allerhand Erfahrungen verfügt und obendrein weder die Zeit noch die Energie hat, aus jeder Kleinigkeit eine Riesengeschichte zu machen.
Aber das hält mich bei den anderen beiden ja auch nicht ab. Und ja, es liegt sicher auch daran, dass Theo ein ausgesprochen robuster kleiner Kerl ist, der so ziemlich alles mitmacht und auf beinahe unheimliche Art und Weise so wirkt, als hätte er die Welt um sich herum schon viel zu fest im Griff.
Trotzdem ist es doch ein ziemlich ungewöhnlicher Vorgang, eine Zehnjährige auf diese Art und Weise Verantwortung übernehmen zu lassen. Oder nicht?
Diese ganze Helikoptereltern-Aussterben-Machen-Lassen-Hysterie macht einen als Elternteil ganz schwummerig. Denk doch mal an die Kinder! Denk doch auch mal nicht an die Kinder! Nix von beiden! Beides gleichzeitig! Sofort, zack, zack!!!
Vom elterlichen Bauchgefühl bleibt dieser Tage nicht mehr viel, wenn jedes Jahr aufs Neue ein Ratgeber nach dem anderen erscheint, der dir genau das Gegenteil von dem in die Magengrube schlägt, was dir der andere davor mitgegeben hat. Selbst Fehler und der Mut zur Lücke müssen heute generalstabsmässig organisiert werden.
Als Eltern verkackt man nicht einfach nur, sondern man «entscheidet sich bewusst, den eigenen Perfektionismus auch mal ruhen zu lassen, um die Kinder so besser auf das Leben vorzubereiten». Na hurra aber auch.
Letztlich ist es wohl der Mut meiner grossen Kinder, der es mir ermöglicht, mit meinem Kleinsten nicht so ängstlich zu sein. Emma (zwei Löcher im Kopf, ein Bänderriss, diverse Treppenstürze) wägt kurz ab und packt die Sachen dann an – egal, was es ist. Emil (nicht eine grössere Verletzung, obwohl er sich immer so auf die andere Strassenseite träumt, dass man meinen könnte, er würde dort als Briefmarke ankommen) könnten Gefahren nicht gleichgültiger sein. Das hier ist seine Welt, in der wir anderen auch nur zufällig spielen.
Ich glaube, ich habe über die Jahre, ohne es zu merken, eine Bande mit den beiden gegründet. Nett, dass sie mich aufgenommen haben. Wer weiss, was sonst passiert wäre.