Wie ukrainische Kampfpiloten mit «Schweizer» Software für den F-16 trainieren
Die ukrainische Luftwaffe hat ein ungewöhnliches Ausbildungsprogramm ins Leben gerufen, um ihren Militärpiloten eine möglichst rasche Umschulung auf den amerikanischen Kampfjet F-16 zu ermöglichen. Und dabei spielt die Schweiz eine besondere Rolle, wie wir gleich sehen.
Was ist daran speziell?
Zwar dürften Flugsimulatoren in jeder modernen Armee zur Ausbildung der Militärpiloten herangezogen werden. Doch im vorliegenden Fall gibt es mehrere Besonderheiten:
- Der verwendete Flugsimulator ist keine teure Spezialkonstruktion, sondern ein Windows-Spiel, das für alle Interessierten frei verfügbar ist. Es nennt sich «Digital Combat Simulator: World» («DCS»), ist baukastenartig aufgebaut und kostet keine 100 Franken
pro Jahr, wenn man das entsprechende Modul «F-16C» nutzen will. - Entwickelt wurde der umfangreiche und realistische Schlachtfeld-Simulator von einer russischen Softwarefirma, die ihren Sitz in der Schweiz hat. Die ukrainischen Piloten trainieren also mithilfe eines russischen Computerspiels, das aus der neutralen Schweiz stammt.
- Alle ukrainischen Fliegerbrigaden hätten die DCS-Software und die für die F-16-Simulationen erforderliche Gamer-Hardware erhalten, erklärte der Sprecher der ukrainischen Luftstreitkräfte, Jurij Ihnat. Dazu gehören Joystick (Steuerknüppel), Schubhebel und VR-Brille.
- Die ukrainischen Piloten, die für den Wechsel von alten Kampfflugzeugen der Sowjet-Ära zu den moderneren amerikanischen F-16 vorgesehen sind, trainierten bereits regelmässig im Simulator. Das Hauptziel der Übungen bestehe darin, ihnen die wichtigsten Unterschiede zwischen der Steuerung der Flugzeuge zu vermitteln.
- Die Piloten könnten sich so ausreichend mit der F-16 vertraut machen, um ihre Ausbildungszeit ausserhalb der Ukraine zu verkürzen, sagte Oleksii Diakiv vom Ausbildungskommando der ukrainischen Luftwaffe.
- Das Game hatte schon zu Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 für Schlagzeilen gesorgt: Damals verbreitete sich auf den Social-Media-Plattformen ein DCS-Video, das angeblich den «Ghost of Kiev» zeigte, einen legendären ukrainischen Kampfpiloten (siehe unten).
Wer hat den Flugsimulator entwickelt?
Die 1991 in Moskau gegründete Entwicklerfirma nennt sich Eagle Dynamics und hat heute ihren Geschäftssitz in Villars-sur-Glâne im Kanton Freiburg. Eine Medienanfrage von watson blieb zunächst unbeantwortet.
Ironie der Geschichte: Ein leitender Angestellter des Unternehmens – ein russischer Staatsbürger – wurde 2019 von einem US-Gericht verurteilt, weil er F-16-Handbücher beschafft und nach Russland hatte schicken lassen. Der damalige Chefprogrammierer von Eagle Dynamics war zuvor in Georgien verhaftet und an die USA ausgeliefert worden.
Das englischsprachige, ukrainische Medium «Kyiv Post», das den Fall recherchiert hat, schreibt:
Anzumerken bleibt, dass es sich dabei nicht um vertrauliche oder gar geheime Dokumente handelte. Das inzwischen in der Schweiz ansässige Unternehmen und der Mann versichern, dass alles mit rechten Dingen zugegangen sei.
Wie sehen solche «Testflüge» aus?
Das folgende von den ukrainischen Streitkräften stammende Video zeigt einen Kampfpiloten, der im aktiven Dienst ist. Der junge Mann sitzt vor einem PC-Bildschirm, trägt eine Virtual-Reality-Brille und bedient einen Steuerknüppel und Schubhebel, um im virtuellen Kampfjet-Cockpit den Formationsflug und verschiedene Luftoperationen zu trainieren.
Das simulierte Flugzeug sei identisch mit der F-16, die mehrere westliche Länder an die Ukraine liefern. Inzwischen haben Dänemark, die Niederlande und Norwegen Dutzende von Maschinen zugesagt, und die Ausbildung der Ukrainer soll dank internationaler Koordination möglichst rasch ablaufen.
Ist so ein Training ernstzunehmen?
Russische Militärblogger machen sich in ihren Telegram-Kanälen offenbar über die Verwendung des kommerziellen Flugsimulators durch die Ukraine lustig. Tatsächlich trainieren aber unter anderem Piloten der US-Luftwaffe schon seit einigen Jahren mit dem Computerspiel DCS.
Das öffentlich verfügbare, extrem realistische Luftkampf-Videospiel sei so präzise, dass es von echten Militärpiloten zum Training genutzt werde, hielt der über Militärthemen schreibende US-Blog The Warzone 2021 fest.
Damals wurde über ein Trainingsgeschwader auf einem US-Luftwaffenstützpunkt in Arizona berichtet, das mit kommerziell erhältlichen Virtual-Reality-Headsets und anderen Gaming-Peripheriegeräten trainierte. Dies sei eine kostengünstige Möglichkeit «zur Ergänzung traditioneller Trainingsprogramme am Boden und in der Luft.»
Die Einheit hatte bereits 2018 mit der Einrichtung eines entsprechenden Schulungslabors begonnen. Der zuständige Kommandeur betonte aber, VR-Training mit Software wie DCS sei kein Ersatz für echtes Flugtraining.
Ein US-Fluglehrer zeigte sich dennoch begeistert:
Tatsächlich hat die Softwarefirma Eagle Dynamics ihren «Digital Combat Simulator» fortlaufend verbessert, weiterentwickelt und die Authentizität der Waffensysteme nicht zuletzt mithilfe einer weltweiten Community erhöht.
Natürlich gebe es Unterschiede zwischen kommerziell erhältlicher Flugsimulator-Software und vollwertigen F-16-Simulatoren, ganz zu schweigen von der echten Fliegerei, hält The Warzone nun fest. DCS-Simulatoren seien jedoch «extrem realitätsgetreu» und eigneten sich gut für die allgemeine Einarbeitung der Piloten und einige Verfahrensschulungen.
Diesen September feierten die DCS-Entwickler den 15. Geburtstag ihres Produkts mit einem grossen Rabatt. Ob die Ukrainer davon profitieren konnten, ist nicht bekannt.
Was hat DCS mit dem «Ghost of Kiev» zu tun?
Als Russlands Armee im Februar 2022 in die Ukraine einfiel und der verbrecherische Angriffskrieg weltweites Entsetzen auslöste, verbreiteten sich Meldungen über einen heldenhaften ukrainischen Kampfpiloten, der angeblich an einem Tag mehrere russische Maschinen abschoss.
Zum «Ghost of Kiev» kursierte ein vermeintliches Video, das auf den Social-Media-Plattformen millionenfach geklickt und verbreitet wurde, sich jedoch als Fake herausstellte.
Es handelte sich um eine Szene aus einer DCS-Simulation. Und die Game-Entwickler sahen sich veranlasst, einen Aufruf an die weltweite Community zu richten:
Wann beherrschen die Ukrainer die F-16?
Ein Generalleutnant der Air Force schätzte, dass ukrainische Piloten, die gerade die Grundausbildung abgeschlossen haben, rund neun Monate benötigen würden, um das F-16-Fliegen zu erlernen. Für Piloten mit Kampferfahrung halte er jedoch drei Monate für «absolut realistisch».
Die ukrainische Luftwaffe erklärte gegenüber der «Kyiv Post», dass die Ausbildungsdauer von den Fähigkeiten der ankommenden Piloten, der Verfügbarkeit der Flugzeuge und der Kapazität der Ausbildungseinrichtung abhänge. Man gehe von vier Monaten für erfahrene Piloten (in Dänemark) und zwei Jahren für neue Piloten (in Grossbritannien) aus.
Es bleibt abzuwarten, wie viel Zeit die Ukraine dank des Computerspiels aus der Schweiz gewinnt. Und wer weiss, vielleicht wird der «Geist von Kiew» zum Leben erweckt.
Quellen
- kyivpost.com: Russia-Developed Combat Flight Sim Used by Ukraine Pilots to Prep for F-16 Transition (29. September)
- thedrive.com: Ukraine Situation Report: Pilots Train On Commercial F-16 Simulators At Home Bases (27. September)
- nzz.ch: Der Kampf sieht aus wie seine eigene Simulation: In der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg überlagern virtuelle Bilder die Realität (Oktober 2022)
- thedrive.com: A-10 Warthog Pilots Are Using The Digital Combat Simulator Video Game To Train In VR (2021)
- meduza.io: An interview with the Russian video game developer who bought F-16 manuals on eBay and went to jail in Utah for it (2019)
