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Analyse

Junge Leute heizen den Nahostkonflikt weiter an über die sozialen Medien

A demonstrator adds burning tires during a protest against Israeli military raid in the West Bank city of Nablus, along the border fence with Israel, in east of Gaza City, Wednesday, Feb. 22, 2023. Pa ...
Palästinenser verbrennen Reifen in der Stadt Nablus im Westjordanland, entlang des Grenzzauns zu Israel. Der Nahostkonflikt stehe vor einer neuen Eskalation, warnen Experten.Bild: keystone
Analyse

Der «TikTok-Krieg» – wie junge Leute den Nahostkonflikt weiter anheizen

01.03.2023, 21:1701.03.2023, 21:17
Anne-Kathrin Hamilton / watson.de
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Tote Israelis, tote Palästinenser, brennende Häuser, Bomben, Schläge, Schüsse, Schreie und mittendrin wachsen Kinder auf.

Ein endloser Kampf um ein Stück Land.

Für die einen ist dieses Gebiet heilig und für die anderen bedeutet es Heimat. Für viele beides. Israelis und Palästinenser:innen bekämpfen sich bereits so lange, dass es schwer ist, den Überblick zu behalten.

epa10495112 An armed Israeli soldier keeps watch in the West Bank town of Hawara, near the city of Nablus, 28 February 2023. Israeli security forces have been conducting searches in the area and set u ...
Immer wieder geraten israelische Soldaten und Palästinenser aneinander.Bild: keystone

Schuldzuweisungen, Hass, Terror und eskalierende Gewalt – der Nahostkonflikt ist zu einer komplexen Fehde herangewachsen. Generationen wachsen heran, die nicht wissen, wie sich Frieden anfühlt. Offenbar sind die jungen Menschen bereits so sehr mit dem Konflikt verwachsen, dass er ein Teil von ihnen geworden ist – oder er wird ihnen regelrecht eingepflanzt.

Palästinensische Kinder werden früh gegen Juden «getrimmt»

«Im palästinensischen Gebiet Gaza gibt es Terrorcamps für Schüler», sagt Arye Sharuz Shalicar auf watson-Anfrage. Er selbst lebt in Israel und berät die israelische Regierung. Seiner Meinung nach wird palästinensischen Kindern schon früh Hass gegen Juden indoktriniert. In den Terrorcamps werde das Narrativ verbreitet, Israel sei eine koloniale Erfindung von europäischen Juden. «Wir hätten hier eigentlich nichts zu suchen. Das ist pure Geschichtsverzerrung», meint Shalicar.

In seinem Buch «Schalom Habibi» spricht er über das spannungsreiche Verhältnis zwischen Juden und Arabern – und die Möglichkeit von Frieden und Freundschaft. Dem deutsch-persisch-israelischen Autor zufolge werden israelische Kinder in den Schulen zu Toleranz und gegenseitigem Respekt für alle Menschen erzogen.

epa10488293 A Palestinian throws back a tear gas grenade during clashes with Israeli soldiers after a protest at Bet Dajan village near the West Bank city of Nablus, 24 February 2023. Palestinians pro ...
Ein Palästinenser mit Schutzmaske wirft einen von israelischen Soldaten abgefeuerten Tränengaskanister zurück.Bild: keystone

Shalicar zufolge werde den palästinensischen Kindern eine «ganz einfache Realität» präsentiert: Juden sind weisse Europäer, die hier nichts zu suchen hätten. Sie kolonisieren, rauben und ermorden – damit sind sie die Feinde.

Gewalt gegen die Zivilbevölkerung

Zur Realität der palästinensischen Kinder gehört aber auch Gewalt seitens Israel, die Shalicar nicht erwähnt.

Das zeigen die jüngsten Ausschreitungen im Westjordanland. In Nablus hat ein mutmasslich palästinensischer Schütze zwei Israelis getötet. Darauf bildete sich ein Mob aus israelischen Siedlern in der palästinensischen Stadt Hawara. Die Angreifer steckten Häuser, Läden und Fahrzeuge in Brand. Der Palästinensische Rote Halbmond berichtete von mehr als hundert Verletzten.

Auch die SPD-Politikerin Sawsan Chebli äussert sich sichtlich entsetzt über die Bilder aus Hawara. «Mir gehen diese Bilder nicht aus dem Kopf», schreibt sie auf Twitter. Während israelische Stimmen in Deutschland die Attacken kritisieren, schwiegen deutsche Medien, die deutsche Twitterwelt, die Politik, meint sie.

Etliche Häuser stehen in Flammen – palästinensische Kinder verlieren ihr Zuhause. Zuvor hatten sie vielleicht bereits ihr Haus an eine jüdische Familie abgeben müssen.

Geschichtsverzerrung an palästinensischen Schulen

Was ist mit jenen palästinensischen Kindern, die miterleben, wenn Juden an die Haustür klopfen und sagen, das sei nun ihr Zuhause? Shalicar versteht die Wut, meint er. Allerdings lebe in den palästinensischen Dörfern kein einziger Jude. «Wir würden sofort ermordet werden», sagt er. Juden wohnten in ihren eigenen Dörfern und Städten.

Palestinians sit in front of their house next to the beach during a rainy day in Dier al-Balah, central Gaza Strip, Saturday, Feb. 4, 2023. (AP Photo/Fatima Shbair)
Palästinenser sitzen an einem regnerischen Tag vor ihrem Haus am Strand in Dier al-Balah, mitten im Gazastreifen gelegen.Bild: keystone

In den Schulen werde den Palästinenser:innen etwa nicht beigebracht, dass Juden schon immer hier gelebt haben. Laut Shalicar wird auch nicht gelehrt, dass die Vereinten Nationen 1947 der jüdischen und arabischen Seite vorgeschlagen hatte, dass jeder ein Teil des Landes für sich beanspruchen sollte. «Aber die Araber lehnten damals ab», sagt der Israeli.

Den Kindern werde von klein auf eingeflösst: Der Staat Israel gehört grundsätzlich nicht hierher. Dieses Denkmuster schütteln junge Menschen nicht einfach von sich ab, meint Shalicar. Er sagt:

«Die wohl einzigen Juden, die sie etwa im Westjordanland treffen, sind israelische Soldaten. Das bekräftigt das Glaubensbild: Alle Juden sind böse.»
An Israeli settler with a weapon stands behind an Israeli soldier during clashes after Israeli settlers attacked Palestinians in Huwara, near the West Bank town of Nablus, Thursday, Oct. 13, 2022. (AP ...
Ein bewaffneter jüdisch-orthodoxer Siedler steht hinter einem israelischen Soldaten.archivBild: keystone

Auf einer solchen Basis sei eine Annäherung zwischen israelischen und palästinensischen Jugendlichen undenkbar. Er selbst würde derzeit seine Kinder zu keinen gemeinsamen Projekten schicken.

Eine Mauer aus Misstrauen, Angst und Gewalt

«Die Angst um sie ist zu gross, das Vertrauen in die andere Seite zu klein, als dass Palästinenser uns mit offenen Armen willkommen heissen würden», sagt er. Erst wenn ein ruhiges Leben, Seite an Seite, ermöglicht werde, könnten sich auch Jugendliche wieder treffen und Freundschaften schliessen.

Doch hier sei nicht bloss die palästinensische Seite am Zug. Auch Israel müsse für den Frieden eine Hand reichen, meint die freie Reporterin Steffi Hentschke im «Zeit-Online» Podcast. «Die israelische Regierung müsste unbedingt den Dialog mit der palästinensischen Autonomiebehörde suchen», sagt sie aus Tel Aviv. Man müsse den Palästinensern das Gefühl geben, zumindest teilweise die Kontrolle über das von Israel besetzte Westjordanland zu haben.

Emotionalisierung des Konflikts auf beiden Seiten

Eindimensional will auch der deutsch-israelische Psychologe Ahmad Mansour den Konflikt nicht betrachten. Auf beiden Seiten – ob auf israelischer oder palästinensischer – erkenne er eine zunehmende Radikalisierung unter den Jugendlichen. Nicht zuletzt spielen hier die sozialen Medien eine Rolle.

Ahmad Mansour
Ahmad Mansour.Bild: keystone

«Ich beobachte Sachen auf beiden Seiten des Konflikts, die mir Sorgen bereiten», sagt er im Gespräch mit watson. Mansour wurde in einer kleinen arabischen Stadt in Israel geboren. Heute kämpft er gegen die Radikalisierung junger Muslime. Was in diesem Konflikt sichtbar sei: Es geht um Emotionen und nicht um Fakten. Er nennt es «Tiktok-Krieg».

Die junge Generation zelebriere auf beiden Seiten ihre Gewalt, ihre Emotionen sowie Opferrolle. Dadurch rollen Steine auf einem lösungs- und faktenorientierten Weg zum Frieden. Vor allem die Palästinenser:innen verlagern laut des Experten ihre Propaganda auf die sozialen Medien und geben dadurch vernünftige und lösungsorientierte Stimmen gar keine Chance.

Tiktok-Radikalisierung: Junge Menschen produzieren Propaganda

Es sei eine regelrechte Tiktok-Radikalisierung, die der Psychologe vorher in dieser Intensität noch nicht erlebt habe. Das Videoportal Tiktok sei voll mit Propaganda von Jugendlichen für Jugendliche. Inhalte werden dabei kaum kritisch hinterfragt. Das Problem werde durch einen Faktor zusätzlich angeheizt: Die junge Generation, die jetzt heranwächst, wisse nicht mehr, wie brutal und blutig eine Eskalation des Konflikts ausgehen kann.

Palestinians celebrate after a shooting attack near a synagogue in Jerusalem, in Gaza City, Friday, Jan. 27, 2023. A Palestinian gunman opened fire outside an east Jerusalem synagogue Friday night, ki ...
Palästinenser in Gaza-Stadt feiern einen aus ihrer Sicht erfolgreichen Anschlag.Bild: keystone

«Wir haben eine Generation von jungen Menschen, die 2003/2004 geboren wurde und die ‹Zweite Intifada› 2000 nicht mehr miterlebt haben», sagt Mansour. Damals kam es zu einem bewaffneten Aufstand von radikalen, palästinensischen Gruppen mit Selbstmordattentaten auf israelische Zivilisten.

Als Antwort folgten Vergeltungsschläge der israelischen Armee, wobei weite Teile der Infrastruktur in den palästinensischen Gebieten zerstört wurden. Das hinterlasse traumatisierende Erfahrungen auf beiden Seiten. Und diese fehle der jungen Generation. Daher seien ihre Einstellungen brutaler und kompromissloser, meint der Experte.

Auf der palästinensischen Seite sehe er auch weniger Ideologie. Das sei nicht die radikalislamische Palästinenserorganisation Hamas, sprich keine religiöse Narrative. «Es sind einfach Kleinkriminelle, die sich organisieren und durch diesen Kampf Anerkennung in ihrer Community erhoffen», sagt er. Mansour glaubt eher nicht, dass die Jugend dazu beitragen könnte, dem Nahostkonflikt ein Ende zu setzen.

epa10434281 Palestinians attend a protest in Jenin camp after nine Palestinians died during a raid by Israeli forces in the West Bank, in Gaza City, 27 January 2023. EPA/MOHAMMED SABER
Palästinensische Jugendliche bei einem Protest im Westjordanland.Bild: keystone

Besonders auf den bevorstehenden Ramadan blickt der Experte besorgt. An diesen wichtigen Feiertagen kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu massiven Ausschreitungen. «Das sind extrem sensible Zeiten», meint Mansour. Er habe das Gefühl, dass eine Eskalation unvermeidbar geworden ist.

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39 Kommentare
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d10
01.03.2023 22:03registriert März 2018
Als wäre die Tiktok-Jugend an diesem Konflikt schuld. Die setzen nur fort, was ihnen seit Geburt eingetrichtert wurde.
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PeteZahad
01.03.2023 23:18registriert Februar 2014
"Dem deutsch-persisch-israelischen Autor zufolge werden israelische Kinder in den Schulen zu Toleranz und gegenseitigem Respekt für alle Menschen erzogen."

Das mag für den Grossteil der Israelis gelten, jedoch nicht für die Orthodoxen Juden, welchen ein Grossteil der Siedler angehört. Es sind auf beiden Seiten die extremen Ränder die dafür sorgen, dass ein friedliches Zusammenleben verunmöglicht wird.
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Kalimat
01.03.2023 23:40registriert August 2022
Es gibt ein Film über Kinder in Israel und Palästina und in dem ist ganz klar ersichtlich, dass auch die orthodoxen jüdischen Kinder dazu erzogen werden, Palästinebser als Tiere zu sehen. So kompliziert die Situation zu schein mag, so einfach ist sie aus moralischer Sicht. Die Israelis sind haushoch überlegen und hätten die Macht und die Verantwortung den Konflikt zu beenden. So lang sie dies nicht tun sind sie für mich einfach schuldig. Die Erziehung der Kinder zur Akzeptanz der gegenseitigen Existenz ist auf jeden Fall für die Langfristigkeit eines Friedens unabdingbar. FREE PALESTINE.
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