Der Kreml dürfte die Schmähkampagne gegen Annalena Baerbock als Propagandaerfolg verbuchen, und das völlig zu Recht. Niemand in der deutschen Regierung steht so für Solidarität mit der Ukraine und Härte gegen Russland wie die grüne Aussenministerin.
Schlagzeilen machten nach ihrem Auftritt in Prag am Mittwoch aber nicht Baerbocks tatsächliche Aussagen zur deutschen Sanktionspolitik, sondern ein verkürzter Video-Schnipsel, den ein putinfreundlicher Telegram-Account in die Welt gesetzt hatte.
Auf dem Podium in Prag hatte die deutsche Ministerin auf Englisch erklärt, dass sie den Ukrainern versprochen habe, sie so lange wie nötig zu unterstützen, selbst wenn es im Winter Proteste wegen hoher Energiepreise gibt – und unabhängig davon, was ihre deutschen Wähler darüber denken («no matter what my German voters think»).
Im folgenden Twitter-Video ist die Passage ungeschnitten und mit deutschen Untertiteln zu sehen, die Originalaufnahmen stammen vom Veranstalter in Prag:
warum die Deutschen nicht immer ganz so harte Sanktionen durchsetzen, wie es die Ukraine oder auch die EU manchmal wollen. Und sagt auch, dass es glücklicherweise Wahlen gebe, wo ihre Wähler ihr zeigen können, was sie davon halten. Das ganze Video hier: pic.twitter.com/1siIhi9HYN— Ann-Katrin Müller (@akm0803) September 1, 2022
Der Ausschnitt mit Baerbock, der am Mittwochabend um 21.31 Uhr im Telegram-Kanal «RussiaUSA» veröffentlicht wurde, dauert allerdings nur 40 Sekunden und lässt den Kontext ihrer Aussage «no matter what my German voters think» weitgehend aus.
Mit dem verkürzten und aus dem Zusammenhang gerissenen Ausschnitt sollte offenbar der Eindruck erzeugt werden, Baerbock seien die sozialen Folgen des Ukraine-Kriegs in Deutschland egal, obwohl sie in Wirklichkeit nur sagt, dass die Bundesregierung auch unter politischem Druck an den Russland-Sanktionen festhalten wird. Das verkürzte Video in dem Telegramkanal kannst du hier sehen.
Ein Blick auf die Betreiber des Kanals «RussiaUSA» verstärkt den Verdacht mutwilliger Desinformation. Wie das Investigativportal «Volksverpetzer» recherchiert hat, steckt dahinter eine Organisation mit dem Namen «The American Council for U.S.-Russia Engagement», auf Deutsch etwa «Rat für US-russische Zusammenarbeit».
Mitbegründer der Organisation soll Vladimir Zeetser sein, ein Multimillionär mit russischen Wurzeln, der in Los Angeles lebt. Laut «Volksverpetzer» hat Zeeztser «enorm enge Verbindungen zu russischen Offiziellen». Das FBI habe bereits wegen Spionage in seinem Netzwerk ermittelt.
Here's Dr. Vladimir Zeetser with his Rhino GX, a $250,000 "bulletproof ambulance."
— Scott Stedman (@ScottMStedman) June 29, 2022
Forensic News can reveal that he co-owns the Duran, a rabidly pro-Kremlin propaganda outlet. https://t.co/angVehQ7jx pic.twitter.com/ilsrfDkibd
Es liegt also nahe, dass das verkürzte Baerbock-Video nicht ohne Hintergedanken bei «RussiaUSA» hochgeladen wurde. Von dem relativ kleinen Telegramkanal mit 6419 Abonnenten (Stand: 2. September, 11:19 Uhr) fand das Video seinen Weg zunächst auf Twitter und zwar über den Account des «Querdenker»-Anwalts Markus Haintz, «der den ganzen Tag nichts anderes tut, ausser Kreml-Propaganda zu teilen», wie «Volksverpetzer» zutreffend schreibt. Beim Blick auf die Liste der fast 20'000 Follower von Markus Haintz wundert es auch nicht, dass die AfD-Blase auf Twitter auf das Video aufmerksam wurde.
Nachdem die AfD-Politikerin Alice Weidel das Video und den Hashtag #BaerbockRuecktritt am Donnerstagmittag auf Twitter weiter verbreitet hatte, nahm die Kampagne gegen Baerbock Fahrt auf. Andere rechtsextreme Accounts verbreiteten das verkürzte Baerbock-Video auf Twitter weiter und störten sich auch nicht an dem gut sichtbaren Wasserzeichen des Telegramkanals «RussiaUSA».
Unter den Hashtags #BaerbockRuecktritt, #Aussenministerin und #Hochverrat wurden bis Freitagmittag mehr als 90'000 Tweets abgesetzt. In die klassischen Medien schaffte es die Aufregung schliesslich über den Springer-Verlag.
Welt.de berichtete als erstes grösseres Portal am Donnerstagnachmittag über die vermeintlich skandalösen Aussagen Baerbocks – und das mit einer kleinen, aber entscheidenden Zuspitzung. Die Überschrift des Artikels lautete zunächst so: «Regierung stehe an der Seite der Ukraine, ,egal, was die deutschen Wähler denken', sagt Baerbock».
Zur Erinnerung: Baerbock hatte im Englischen von «my german voters» gesprochen – «meinen deutschen Wählern», nicht «den» deutschen Wählern. Erst in einer späteren Version gab welt.de Baerbocks Worte korrekt wieder, allerdings ohne einen Hinweis auf die zwischenzeitliche Änderung der Überschrift. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier hat auf Twitter beide Versionen des Artikels dokumentiert:
Und es gibt gar keine Regel bei @Welt, dass bei der nachträglichen Berichtigung eines wörtlichen Zitats (!) in der Überschrift (!) wenigstens irgendwo ein transparenter Korrekturhinweis irgendwo angebracht werden muss, @omichalsky? pic.twitter.com/UYBn58k1qF— Stefan Niggemeier (@niggi) September 1, 2022
Unter Verweis auf den Artikel von welt.de äusserten sich dann selbst seriöse CDU-Politiker wie Norbert Röttgen zu der Scheindebatte: «Liebe Frau Baerbock, das ist unnötiger Schein-Heroismus. Die Mehrheit der Deutschen ist dazu bereit, die #Ukraine weiter zu unterstützen», schrieb Röttgen auf Twitter. Laut «Volksverpetzer» teilten auch berüchtigte Verbreiter von Desinformation wie Eva Hermann und Boris Reitschuster den Springer-Artikel auf ihren Kanälen und Webseiten. «Die WELT liefert erneut eine nützliche Vorlage für viele Extremist:innen, die das Framing der Pro-Kreml-Kampagne dann über die vermeintlich seriöse Zeitung verbreiten», schreibt das Portal.
Das Auswärtige Amt äusserte sich schliesslich über den Ministeriumsbeauftragten für strategische Kommunikation, Peter Ptassek. Der schrieb am Donnerstag auf Twitter: