Selbstporträt: Die 28-jährige Violetta Oliinyk arbeitete vor dem Krieg mit Schmuck, nun engagiert sie sich als Drohnen-Konstrukteurin.Bild: watson
Der Krieg bringt nicht nur das Böse im Menschen hervor, sondern auch viel Gutes. watson lässt Ukrainerinnen und Ukrainer zu Wort kommen, die sich abseits der Front für die Verteidigung ihrer Heimat einsetzen.
11.04.2024, 06:0011.04.2024, 09:38
Wegen der nur zögerlich erfolgenden und zum Teil ganz ausbleibenden Hilfe aus dem Westen sind viele Ukrainerinnen und Ukrainer von sich aus tätig geworden. Sie versuchen, den Mangel an Munition und Waffen mit unkonventionellen Ideen und innovativer Technik auszugleichen.
Dieser Artikel entstand in Kooperation mit der gemeinnützigen, staatsunabhängigen Organisation PR Army. Das ist ein Zusammenschluss von Kommunikationsfachleuten, PR-Spezialisten und Journalistinnen in der Ukraine. Ihr Ziel ist es, die Welt über den russischen Angriffskrieg und dessen Folgen für das überfallene Land aufzuklären.
Auf eigene Initiative schreibt die PR Army Medien im Westen an und vermittelt Interessierten den Kontakt zu ukrainischen Experten, Behörden und Augenzeugen.
In einer Serie gibt watson die Schilderungen von Zivilistinnen und Zivilisten wieder, die nicht an der Front kämpfen, sich aber entschieden haben, die Verteidigung ihrer Heimat mit eigenen Mitteln freiwillig zu unterstützen.
Wir haben ihnen folgende Fragen gestellt:
- Woher nehmen sie den Mut und die Kraft, sich gegen die russischen Invasoren zu wehren?
- Was erwarten und erhoffen sie sich für die Zukunft?
- Haben sie eine persönliche Botschaft an die Menschen in der Schweiz?
Den Anfang macht Violetta Oliinyk.
Von der Schmuck-Designerin zur Drohnen-Bauerin
Violetta Oliinyk hat fast ihr ganzes Leben lang mit Schmuck gearbeitet – bis die Russen einfielen, und nun arbeitet die Ukrainerin statt mit Edelsteinen mit Kriegsgerät.
Als männliche Familienangehörige an die Front gingen, lernte Violetta, sogenannte FPV-Drohnen für die Aufklärung und den Kampf zusammenzubauen – und sie hat die ukrainische Armee seit letztem Herbst mit 23 Drohnen beliefert.
Bescheiden sagt sie:
«Ich persönlich leiste keinen Widerstand gegen die Besatzer, glücklicherweise habe ich sie nie mit eigenen Augen gesehen, denn ich lebe weit weg von der Frontlinie, wahrscheinlich in der Region, die am weitesten von der russischen Grenze entfernt ist. Aber ich bin in die Region Donezk gereist, um Hilfe zu leisten, und habe die Folgen des Krieges in den Städten an der Frontlinie gesehen. Es ist schrecklich.»
Was tun, wenn die halbe Familie an der Front ist
Es gebe für sie viele Gründe, sich weiterhin als Freiwillige zu engagieren und der ukrainischen Armee in ihrem Abwehrkampf zu helfen, sagt Violetta.
«Der erste Grund ist, dass ich nicht möchte, dass mein Land besetzt ist. Ein anderes Land, das uns fremd ist, hat die Ukraine mit ihrer eigenen Sprache, ihren Sitten und Traditionen versklavt – so wie es früher, zum Beispiel während der Sowjetzeit, der Fall war.»
Der zweite Grund sei ihre Familie. Zwei ihrer Brüder und der Vater hätten sich im Februar 2022 freiwillig zur Verteidigung der Ukraine gemeldet, und sie habe daraufhin begonnen, sie und ihre Einheiten zu unterstützen, etwa bei der Versorgung mit der notwendigen Munition, Lebensmitteln, etc.
Die Versorgungslage sei zwar viel besser, seit die Männer in der regulären Armee Dienst leisten, es gebe aber viele Dinge, bei denen die Soldaten Unterstützung brauchten.
«Ich möchte, dass sie sich auf die Erfüllung ihrer Kampfaufgaben und die Erhaltung ihres Lebens konzentrieren und nicht darauf, woher sie Geld für Fahrzeugreparaturen bekommen oder wie sie verlorene Drohnen ersetzen können. Viele Frauen sind der Armee als Kämpferinnen und Sanitäterinnen beigetreten. Was ich tue, ist also ein normales Verhalten für eine Zivilistin in Kriegszeiten. Wir sollten alles in unserer Macht Stehende tun, uns freiwillig melden, die Armee finanziell unterstützen, den Streitkräften beitreten.»
Was ihre Erwartungen für die Zukunft betrifft, gibt sich Violetta keinen falschen Hoffnungen hin. Es hänge alles von den Massnahmen der Verbündeten im Ausland ab.
«Wenn die Verbündeten anfangen, der Ukraine intensiver mit Waffen zu helfen, weil sie verstehen, dass dies ein Krieg der gesamten zivilisierten Welt gegen ein verrücktes Land ist, dann wird es besser sein. Vielleicht sind dann auch Rotationen möglich, und meine Familienangehörigen können längere Urlaube bekommen. Ich habe sie schon sehr lange nicht mehr gesehen, manche mehr als ein Jahr.»
Ein friedliches Bild mit ernstem Hintergrund.Bild: watson
Die Ausstattung der Kämpfer mit moderner Technik werde dazu beitragen, einen gewissen Anteil an menschlichen Verlusten zu vermeiden, sagt die Ukrainerin. Sie hofft, dass sich viele Soldaten ausruhen, psychisch rehabilitieren und neue Kräfte sammeln können. Viele von ihnen seien seit über zwei Jahren ununterbrochen an der Front.
Wenn die westliche Unterstützung allerdings auf dem aktuellen Niveau bleibe, dann ahne sie Böses.
«Ich halte es für durchaus realistisch, dass der Truppenmangel kritisch wird, z. B. wegen des Fehlens der notwendigen Artillerie, und es zu einer allgemeinen Mobilisierung der Bevölkerung kommt. Ich möchte nicht, dass das passiert. Mit Mobilisierung meine ich die Mobilisierung von sehr jungen Menschen.»
Ihre Botschaft an uns
An die Menschen in der Schweiz gerichtet, hat die junge Ukrainerin warnende Worte:
«Allein der Gedanke an einen grossen Krieg in Europa in unserer Zeit klingt unwirklich, aber er findet hier statt. Versuchen Sie sich vorzustellen, dass russische Besatzungstruppen bereits in Ihrem Land sind, es könnte tatsächlich Realität werden.
In der Ukraine hat fast niemand geglaubt, dass eine Invasion im grossen Stil beginnen könnte. Wir dachten, es wäre ‹nur ein Aufflackern an der Demarkationslinie›, aber innerhalb weniger Stunden waren die Besatzer in friedlichen Städten und umzingelten die Hauptstadt.»
Ihre eindringliche Botschaft:
«Unterstützen Sie die Ukraine so weit wie möglich. Es ist viel effektiver, das Militär zu unterstützen und uns zu helfen, diesen Krieg zu beenden, als unsere Flüchtlinge jahrzehntelang zu unterstützen. Wenn Sie uns jetzt nicht helfen wollen, dann werden entweder Sie oder Ihre Kinder die russische Aggression persönlich erleben müssen. Das würde ich niemandem wünschen.»
Quellen
Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
Ukrainische Soldaten begraben kurz nach Weihnachten 2023 ihren Kameraden Vasyl Boichuk im Dorf Iltsi.
quelle: keystone / evgeniy maloletka
Arnold Schwarzeneggers starke Botschaft gegen Hass und Antisemitismus
Video: watson
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