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Havanna-Syndrom: Wie die Schweiz russische Strahlenangriffe ermöglichte

The entrance of the Permanent Mission of the Russian Federation to the United Nations is pictured, in Geneva, Switzerland, Wednesday, April 26, 2023. (KEYSTONE/Salvatore Di Nolfi)
Eingang der Vertretung der Russischen Föderation bei der UNO in Genf. Erneut sorgt Putins Killertruppe «Einheit 29155» für Schlagzeilen. archivBild: KEYSTONE

Wie die Schweiz die mysteriösen, mutmasslich russischen Strahlenangriffe ermöglichte

Spuren der mit einer neuartigen Energiewaffe verübten Anschläge auf US-Staatsangehörige führen nach Genf. Ein renommierter Investigativ-Journalist kritisiert die passive Haltung der Schweiz.
02.04.2024, 20:0103.04.2024, 06:43
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«Das Gefühl der Übelkeit war überwältigend. Lebensmittelvergiftung, dachte er und beschloss, ins Bad zu gehen. Doch als er aus dem Bett aufstehen wollte, fiel er um. Er versuchte aufzustehen und fiel wieder hin.

Es war in den frühen Morgenstunden des 5. Dezember 2017, und in seinem Moskauer Hotelzimmer drehte sich alles um ihn herum. Seine Ohren klingelten. Er erinnerte sich, dass er sich fühlte, ‹als würde ich mich übergeben und gleichzeitig ohnmächtig werden›.»

So beginnt ein Artikel, den die Zeitschrift «GQ» im Oktober 2020 veröffentlicht hat. Tragischer Held der Geschichte ist der damalige CIA-Agent Marc Polymeropoulos.

Der mittlerweile 54-jährige Amerikaner hat sich nie von dem Anschlag erholt. Die Schmerzen seien mehr als sechs Jahre später immer noch da, erzählte er nun dem «Spiegel».

Und nein, die gesundheitlichen Aussetzer des erfahrenen Geheimdienstlers hatten nichts mit übermässigem Wodka-Konsum oder anderen Drogen zu tun. Vielmehr steht eine russische Killertruppe im Verdacht, die erst kürzlich schon für Aufregung gesorgt hat: die Einheit 29155.

Diese Woche sorgt das sogenannte Havanna-Syndrom, seltsame Hirnverletzungen bei US-Diplomaten und anderen Staatsangestellten, für neue Schlagzeilen.

Das Vorgehen weist alle Merkmale einer Operation der russischen hybriden Kriegsführung auf.
Feststellung von The Insider

Was ist passiert?

Anfang dieser Woche hat das Havanna-Syndrom für neue Schlagzeilen gesorgt. Am Montag veröffentlichten Investigativ-Journalistinnen und -Journalisten aus Europa und den USA die Ergebnisse ihrer gemeinsamen Recherchen.

Federführend bei den Untersuchungen war die russischsprachige Investigativplattform «The Insider». Hauptverantwortlich ist der aus Bulgarien stammende Christo Grosew, der inzwischen aus Sicherheitsgründen in den USA lebt.

Einigen watson-Usern dürfte Grosew bereits bekannt sein. Er hat unter anderem die Untersuchungen geleitet, die zur Enttarnung der Einheit 29155 führten, einer zum russischen Militärgeheimdienst GRU zählenden Killer-Truppe.

Mitglieder der Einheit 29155 werden für mehrere im Westen verübte Mordanschläge verantwortlich gemacht, darunter den Giftanschlag auf den russischen Überläufer und GRU-Offizier Sergei Skripal in Grossbritannien im Jahr 2018.

Skripal und dessen Tochter wurden mit dem in Russland entwickelten Nervenkampfstoff Nowitschok attackiert, überlebten aber dank glücklicher Umstände. Eine völlig unbeteiligte Frau musste hingegen sterben, weil sie über ein gefundenes Parfümfläschchen mit dem Gift in Kontakt kam.

Putins Geheimdienste scheinen aber auch über eine Waffe zu verfügen, deren Einsatz nicht direkt zu schwerer Verletzung oder gar zum Tod führt, aber nicht weniger perfid ist.

«‹The Insider›, ‹60 Minutes› und ‹Der Spiegel› können nun enthüllen, dass hochrangige Mitglieder der Einheit 29155 selbst damit beauftragt und dafür belohnt wurden, erfolgreich ‹nicht-tödliche akustische Waffen› zu testen.»

Der Kreml bestreitet alle Vorwürfe und die Verantwortlichen der Einheit 29155 liessen Fragen im Zuge der umfangreichen journalistischen Recherchen unbeantwortet.

Geheime Waffenversuche
Das Recherche-Konsortium, bestehend aus «The Insider», «60 Minutes» und «Der Spiegel», hat gemäss eigenen Angaben eine Reihe von Geheimdienstdokumenten erhalten, die ein geheimes Programm aus der Sowjetzeit der 1980er-Jahre mit dem Codenamen «Reduktor» beschreiben. Seine zentrale Aufgabe bestand darin, die Verwendung «elektromagnetischer Strahlung zur Beeinflussung des Verhaltens und der Reaktionen biologischer Objekte, einschliesslich Menschen» zu untersuchen.

1988 sei ausserdem in Russland ein streng geheimes Forschungsprogramm initiiert worden, für das eine eigene Abteilung, die «Achte Abteilung», geschaffen worden sei. Wissenschaftler dieser Abteilung hätten mit elektromagnetischer Energie an Ratten und Rhesusaffen experimentiert. Einige Tiere seien an der Einwirkung von Wärmestrahlung gestorben; andere entwickelten Hirnschäden.

Unabhängig davon habe ein anderes wissenschaftliches Forschungsinstitut in Russland im Jahr 2010 Arbeiten zur «Entwicklung grundlegender Technologien für die Schaffung einer neuen Generation von Sonar- und akustischen Waffensystemen» durchgeführt.

Spätestens hier muss darauf hingewiesen werden, dass auch die Grossmächte USA und China seit vielen Jahrzehnten an entsprechenden Waffensystemen forschen.

Warum wird die Schweiz kritisiert?

Die russische UN-Mission in Genf sei ein wichtiger Ort für die Killereinheit 29155 gewesen, so der «Tages-Anzeiger».

Noch immer ist vieles unklar, was das neuartige Waffensystem betrifft. Und es gilt zu betonen, dass keine eindeutigen Beweise vorliegen. Die Formulierungen in den entsprechenden Artikeln sind entsprechend vorsichtig gewählt.

  • Die in der einjährigen Untersuchung zutage geförderten Beweise deuteten darauf hin, dass die ungeklärten Gesundheitsvorfälle, auch bekannt als Havanna-Syndrom, «ihren Ursprung im Einsatz gezielter Energiewaffen durch Mitglieder der russischen GRU-Einheit haben könnten».

The Insider konnte anhand von Flugdaten und Metadaten von Mobiltelefonen herausfinden, dass Mitglieder der Einheit 29155 häufig in nächster Nähe der Opfer des Havanna-Syndroms waren – und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als die gesundheitlichen Symptome auftraten.

Attacken fanden nicht nur auf Kuba statt, sondern auch schon deutlich früher, in Westeuropa, etwa in Frankfurt am Main. Aber auch in Wien und Genf, die als wichtige Zentren internationaler Diplomatie gelten, traten Fälle auf.

Bei den Recherchen zum Havanna-Syndrom sei klar geworden, dass Genf eine wichtige Rolle spielte, als es darum ging, Anschläge im Ausland zu planen und auszuführen. Die Mitglieder der Einheit 29155 hätten die Stadt am See als Stützpunkt genutzt. Dort konnten sie sich ungestört versammeln.

«Wir kennen aberdutzende Buchungen für Hotels in der Nähe des Genfer Flughafens. Immer für einen längeren Zeitraum. Sie konnten leicht von Genf zum eigentlichen Ziel ihrer Operationen reisen und dann zurückkommen, um sich neu zu gruppieren.»
Christof Grosew, Investigativ-Journalist
Christo Grozev of Investigative Journalist site Bellingcat, who provided all the research, speak at a press conference after identifying the second Russian suspect in the Skripal poisoning suspect as  ...
Der preisgekrönte Journalist Christo Grosew ist seit 2023 Recherche-Leiter bei The Insider, zuvor war er beim investigativen Recherchenetzwerk Bellingcat tätig.archivBild: imago-images.de

Für den erfahrenen Investigativ-Journalisten, der sich seit vielen Jahren mit den im Ausland mordenden russischen Geheimdienstlern beschäftigt, ist klar:

«Die Schweiz hat die Aktivitäten der russischen Agenten zu lange ignoriert. Das sah offensichtlich auch der russische Militärgeheimdienst GRU so. Er unternahm viel weniger Anstrengungen zur Tarnung als in anderen westlichen Staaten. In der Schweiz blieben die russischen Spione unter dem Radar. Hier fühlten sie sich sicher.»

Wurden auch Ziele in der Schweiz attackiert?

Ja. Laut Bericht gibt es Fälle von amerikanischen Staatsangestellten, die in Genf mutmasslich am Havanna-Syndrom litten.

Auch in der Genfer US-Mission seien Havanna-Syndrom-Fälle aufgetaucht, hatte zuvor das «Wall Street Journal» berichtet. Bis 2019 hätten sich drei betroffene amerikanische Staatsangehörige gemeldet. Eine Person sei zwecks medizinischer Behandlung zurück in die USA geflogen worden.

In der CNBC-Sendung «60 Minutes» schildert eine FBI-Agentin, wie sie einen solchen Zwischenfall erlebte:

Der «Tages-Anzeiger» hat den Investigativ-Journalisten Grosew gefragt, ob die russischen Geheimagenten auch in der Schweiz Anschläge verübt hätten. Dessen Antwort:

«Es sieht so aus. Aber wir haben die Daten zu insgesamt 100 möglichen Angriffen noch nicht alle ausgewertet. Wir werden uns noch intensiver mit Genf beschäftigen.»
Christo Grosew, Investigativ-Journalist

Wie reagiert der Bund?

Die offiziellen Stellen halten sich bedeckt.

Das Aussenministerium von Bundesrat Ignazio Cassis hielt auf Anfrage des «Tages-Anzeigers» lediglich fest, dass die Schweiz «die Sicherheit von den ausländischen Vertretungen in der Schweiz sowie deren Personal» gewährleiste.

Und der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) gab sich wie zu erwarten wortkarg. Man habe Kenntnis vom Havanna-Syndrom, kommentiere aber keine Medienberichte.

Warum sind Angriffe mit «Energiewaffen» schwer nachweisbar?

Dazu hält The Insider fest:

«Sowohl Mikrowellen- als auch Ultraschallenergie kann Zellen im Gehirn schädigen und die Blut-Hirn-Schranke öffnen, wodurch Proteine aus den beschädigten Zellen in die Rückenmark-Flüssigkeit und dann in den Blutkreislauf gelangen. Diese sogenannten Biomarker werden vom Körper innerhalb von Stunden bis Tagen verstoffwechselt, was bedeutet, dass jemandem, der mit einer akustischen Waffe getroffen wurde, fast unmittelbar nach einem Angriff Blut abgenommen werden müsste, um solche Anzeichen einer Verletzung zu erkennen.»
quelle: theins.ru

Quellen

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76 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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up4you
02.04.2024 21:27registriert März 2023
Die Frage sei erlaubt, wo ist die Grenze zwischen passiver oder aktiver Unterstützung des Putin-Regime. Es gibt so viele Vorfälle hinsichtlich Verbreitung von gezielten Fehlinformationen, manipulierten Medienmitteilungen, Umgehungsgeschäft von Sanktionen über Firmen mit Geschäftsverbindungen in die Schweiz und seitens des Bundesrates passiert absolut nichts...!
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Tom79
02.04.2024 21:04registriert Juli 2020
Die Schweiz sollte alles russiche Diplomatengesocks ausweisen. Lediglich 1 Botschafter, 1Koch, 2Leibwächter, 1 Assistent, 1 Fahrer , 1 Jurist und ein Komunikationsspezialist sollten noch da bleiben dürffen. Die Russen haben so viel Personal da und nur ein kleiner Teil sind echte Diplomaten. Der grosse rest sind vermutlich Geheimdienstler.
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Chrisbe
02.04.2024 21:23registriert Oktober 2019
Wie reagiert der Bund?
Wie schon? Wie immer!
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