Wie die Schweiz die mysteriösen, mutmasslich russischen Strahlenangriffe ermöglichte
Es war in den frühen Morgenstunden des 5. Dezember 2017, und in seinem Moskauer Hotelzimmer drehte sich alles um ihn herum. Seine Ohren klingelten. Er erinnerte sich, dass er sich fühlte, ‹als würde ich mich übergeben und gleichzeitig ohnmächtig werden›.»
So beginnt ein Artikel, den die Zeitschrift «GQ» im Oktober 2020 veröffentlicht hat. Tragischer Held der Geschichte ist der damalige CIA-Agent Marc Polymeropoulos.
Der mittlerweile 54-jährige Amerikaner hat sich nie von dem Anschlag erholt. Die Schmerzen seien mehr als sechs Jahre später immer noch da, erzählte er nun dem «Spiegel».
Und nein, die gesundheitlichen Aussetzer des erfahrenen Geheimdienstlers hatten nichts mit übermässigem Wodka-Konsum oder anderen Drogen zu tun. Vielmehr steht eine russische Killertruppe im Verdacht, die erst kürzlich schon für Aufregung gesorgt hat: die Einheit 29155.
Diese Woche sorgt das sogenannte Havanna-Syndrom, seltsame Hirnverletzungen bei US-Diplomaten und anderen Staatsangestellten, für neue Schlagzeilen.
Was ist passiert?
Anfang dieser Woche hat das Havanna-Syndrom für neue Schlagzeilen gesorgt. Am Montag veröffentlichten Investigativ-Journalistinnen und -Journalisten aus Europa und den USA die Ergebnisse ihrer gemeinsamen Recherchen.
Federführend bei den Untersuchungen war die russischsprachige Investigativplattform «The Insider». Hauptverantwortlich ist der aus Bulgarien stammende Christo Grosew, der inzwischen aus Sicherheitsgründen in den USA lebt.
Einigen watson-Usern dürfte Grosew bereits bekannt sein. Er hat unter anderem die Untersuchungen geleitet, die zur Enttarnung der Einheit 29155 führten, einer zum russischen Militärgeheimdienst GRU zählenden Killer-Truppe.
Mitglieder der Einheit 29155 werden für mehrere im Westen verübte Mordanschläge verantwortlich gemacht, darunter den Giftanschlag auf den russischen Überläufer und GRU-Offizier Sergei Skripal in Grossbritannien im Jahr 2018.
Skripal und dessen Tochter wurden mit dem in Russland entwickelten Nervenkampfstoff Nowitschok attackiert, überlebten aber dank glücklicher Umstände. Eine völlig unbeteiligte Frau musste hingegen sterben, weil sie über ein gefundenes Parfümfläschchen mit dem Gift in Kontakt kam.
Putins Geheimdienste scheinen aber auch über eine Waffe zu verfügen, deren Einsatz nicht direkt zu schwerer Verletzung oder gar zum Tod führt, aber nicht weniger perfid ist.
Der Kreml bestreitet alle Vorwürfe und die Verantwortlichen der Einheit 29155 liessen Fragen im Zuge der umfangreichen journalistischen Recherchen unbeantwortet.
1988 sei ausserdem in Russland ein streng geheimes Forschungsprogramm initiiert worden, für das eine eigene Abteilung, die «Achte Abteilung», geschaffen worden sei. Wissenschaftler dieser Abteilung hätten mit elektromagnetischer Energie an Ratten und Rhesusaffen experimentiert. Einige Tiere seien an der Einwirkung von Wärmestrahlung gestorben; andere entwickelten Hirnschäden.
Unabhängig davon habe ein anderes wissenschaftliches Forschungsinstitut in Russland im Jahr 2010 Arbeiten zur «Entwicklung grundlegender Technologien für die Schaffung einer neuen Generation von Sonar- und akustischen Waffensystemen» durchgeführt.
Spätestens hier muss darauf hingewiesen werden, dass auch die Grossmächte USA und China seit vielen Jahrzehnten an entsprechenden Waffensystemen forschen.
Warum wird die Schweiz kritisiert?
Die russische UN-Mission in Genf sei ein wichtiger Ort für die Killereinheit 29155 gewesen, so der «Tages-Anzeiger».
Noch immer ist vieles unklar, was das neuartige Waffensystem betrifft. Und es gilt zu betonen, dass keine eindeutigen Beweise vorliegen. Die Formulierungen in den entsprechenden Artikeln sind entsprechend vorsichtig gewählt.
- Die in der einjährigen Untersuchung zutage geförderten Beweise deuteten darauf hin, dass die ungeklärten Gesundheitsvorfälle, auch bekannt als Havanna-Syndrom, «ihren Ursprung im Einsatz gezielter Energiewaffen durch Mitglieder der russischen GRU-Einheit haben könnten».
The Insider konnte anhand von Flugdaten und Metadaten von Mobiltelefonen herausfinden, dass Mitglieder der Einheit 29155 häufig in nächster Nähe der Opfer des Havanna-Syndroms waren – und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als die gesundheitlichen Symptome auftraten.
Attacken fanden nicht nur auf Kuba statt, sondern auch schon deutlich früher, in Westeuropa, etwa in Frankfurt am Main. Aber auch in Wien und Genf, die als wichtige Zentren internationaler Diplomatie gelten, traten Fälle auf.
Bei den Recherchen zum Havanna-Syndrom sei klar geworden, dass Genf eine wichtige Rolle spielte, als es darum ging, Anschläge im Ausland zu planen und auszuführen. Die Mitglieder der Einheit 29155 hätten die Stadt am See als Stützpunkt genutzt. Dort konnten sie sich ungestört versammeln.
Für den erfahrenen Investigativ-Journalisten, der sich seit vielen Jahren mit den im Ausland mordenden russischen Geheimdienstlern beschäftigt, ist klar:
Wurden auch Ziele in der Schweiz attackiert?
Ja. Laut Bericht gibt es Fälle von amerikanischen Staatsangestellten, die in Genf mutmasslich am Havanna-Syndrom litten.
Auch in der Genfer US-Mission seien Havanna-Syndrom-Fälle aufgetaucht, hatte zuvor das «Wall Street Journal» berichtet. Bis 2019 hätten sich drei betroffene amerikanische Staatsangehörige gemeldet. Eine Person sei zwecks medizinischer Behandlung zurück in die USA geflogen worden.
In der CNBC-Sendung «60 Minutes» schildert eine FBI-Agentin, wie sie einen solchen Zwischenfall erlebte:
Der «Tages-Anzeiger» hat den Investigativ-Journalisten Grosew gefragt, ob die russischen Geheimagenten auch in der Schweiz Anschläge verübt hätten. Dessen Antwort:
Wie reagiert der Bund?
Die offiziellen Stellen halten sich bedeckt.
Das Aussenministerium von Bundesrat Ignazio Cassis hielt auf Anfrage des «Tages-Anzeigers» lediglich fest, dass die Schweiz «die Sicherheit von den ausländischen Vertretungen in der Schweiz sowie deren Personal» gewährleiste.
Und der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) gab sich wie zu erwarten wortkarg. Man habe Kenntnis vom Havanna-Syndrom, kommentiere aber keine Medienberichte.
Warum sind Angriffe mit «Energiewaffen» schwer nachweisbar?
Dazu hält The Insider fest:
Quellen
- tages-anzeiger.ch: «In der Schweiz fühlten sich russische Agenten sicher» (1. April 2024)
- tages-anzeiger.ch: Russische Strahlenangriffe wurden über Genf lanciert
- theins.ru: Unraveling Havana Syndrome: New evidence links the GRU's assassination Unit 29155 to mysterious attacks on U.S. officials and their families
- spiegel.de: Setzten russische Agenten Mikrowellenwaffen gegen US-Diplomaten ein?
- gq.com: The Mystery of the Immaculate Concussion (2020)