Das russischsprachige Investigativ-Medium «The Insider» vermittelt in einem kürzlich veröffentlichten Interview Einblicke in die Strukturen der Einheit 29155, die für Sabotage und Anschläge in ganz Europa zuständig sein soll.
«The Insider» und das Recherche-Netzwerk Bellingcat haben in den letzten Jahren ausführlich über den Kommandeur der Einheit berichtet. Dieser soll nun die Nachfolge des 2023 getöteten Söldnerführers Jewgeni Prigoschin antreten.
watson fasst die wichtigsten Punkte zusammen.
Von Christo Grosew, einem preisgekrönten bulgarischen Investigativ-Journalisten, Kommunikationswissenschaftler und Mitglied des Recherche-Netzwerks Bellingcat. Der 54-Jährige leitet beim russischsprachigen, Kreml-kritischen Medium «The Insider» ein eigenes Recherche-Team und hat kürzlich ein langes Interview zur Einheit 29155 gegeben. Das auf Englisch geführte Gespräch liegt als Video vor (siehe Quellen).
Schon im Oktober 2023 hatte «The Insider» mit einem Enthüllungsbericht zur Einheit 29155 für Aufsehen gesorgt. Darin ging es um einen Angriff auf ein bulgarisches Munitionsdepot im November 2011. Dieser Bombenanschlag stellte gemäss Bericht die erste bekannte Kriegshandlung Russlands gegen einen NATO- und EU-Mitgliedstaat dar.
Es handle sich um eine grosse Einheit innerhalb des russischen Militärgeheimdienstes GRU mit rund 400 Mitgliedern. Ihr offizieller Zweck bestehe darin, Agenten «im Geschäft mit Explosionen, Sabotage und Attentaten zu schulen».
Diese Einheit habe in der Vergangenheit einige der bekanntesten Angriffe gegen den Westen und gegen Personen ausgeführt, die Wladimir Putin als seine Feinde ansehe. Wie etwa den Giftanschlag auf den (inzwischen inhaftierten) Oppositionellen Alexei Nawalny in Grossbritannien, 2020.
Innerhalb der Einheit gebe es eine namenlose Untereinheit. Manchmal werde sie als K2 bezeichnet, manchmal als K200, aber es sei eine Untereinheit von 29155, die internationale Operationen für den Militärgeheimdienst ausführe.
Diese Untereinheit bilde einerseits Agenten aus, die sich als sogenannte Schläfer während ihres ganzen Erwachsenenlebens unauffällig im Ausland aufhielten. Das könne man sich wie in der TV-Serie «The Americans» vorstellen.
Andererseits würden auch Agenten ausgebildet, die jeweils nur für ein paar Wochen ins Ausland geschickt werden, und ihre falschen Identitäten seien deshalb russisch. Einige hätten ihre berufliche Ausbildung unter einer Tarnidentität absolviert, wie etwa ein Filmregisseur, der später die Künstlerkreise in Barcelona infiltrierte. Oder ein Mann, der jeweils als ausgebildeter Versicherungsmakler ins Ausland reiste.
Ab 2007, 2008 sei es der Einheit dank grosser Investitionen gelungen, um die 70 Tarnidentitäten aufzubauen.
Der langjährige Oberbefehlshaber der Einheit 29155 sei kürzlich neben Putin sitzend fotografiert worden: General Andrej Awerjanow, geboren 1967 in Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans.
Grosew sagt über den GRU-Offizier:
Gemäss «The Insider» ist Awerjanow mittlerweile aufgestiegen und von Putin zum Nachfolger des Wagner-Gründers Jewgeni Prigoschin ernannt worden. Damit wäre er für russische Sicherheitsbeziehungen im Ausland verantwortlich.
Awerjanow übernehme viele Funktionen, Netzwerke und Verbindungen im Nahen Osten und in Afrika von Prigoschin und dessen Söldnergruppe. Sie sei im Auftrag des russischen Staates an mehreren Regimen in Afrika und im Nahen Osten beteiligt und sorge für die Sicherheit all der Diktatoren.
Auf die Einheit 29155 stiessen Grosew und sein Team eher zufällig: Sie recherchierten die Hintergründe des Giftanschlages 2018 im britischen Salisbury auf Sergei Skripal, ein in den Westen übergelaufener Offizier des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Bei dem Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok wurde auch Skripals Tochter verletzt und eine völlig unbeteiligte britische Frau starb, weil die Täter eine Parfümsprühflasche mit dem Gift liegen liessen.
Mit ironischem Unterton sagt der Investigativ-Journalist, dass Russland wahrscheinlich «die transparenteste Gesellschaft der Welt» sei. Dies, weil man Daten über jede Person dort kaufen könne, und zwar nicht nur über normale Menschen, sondern auch über Spione. Das wiederum liege an der Korruption der russischen Strafverfolgungsbehörden.
Anhand von gekauften russischen Telefon-Metadaten und dem Abgleichen von Reisedaten sei es gelungen, ein ganzes Netzwerk von Agenten aufzudecken.
Darüber hinaus seien die Agenten mit Pässen gereist, die leicht als gefälscht zu erkennen waren, weil sie alle in aufeinanderfolgenden Seriennummern auftraten.
Der Investigativ-Journalist erklärt, dass der Giftanschlag in Salisbury 2018 die unvorsichtigen russischen Agenten blossgestellt habe, aber es sei nicht das erste Mal gewesen, dass sie etwas in der Öffentlichkeit getan hätten.
Dieser Bulgare wollte zu Beginn der russischen Invasion in der Ostukraine im Jahr 2014 Waffen und Munition an die Ukraine verkaufen. Doch zu jenem Zeitpunkt habe niemand etwas über die Nervengift-Gruppe Nowitschok gewusst und auch nicht über die Existenz der Einheit 29155.
Der Mann habe den Anschlag knapp überlebt, und die Rüstungsgüter seien an die Ukraine verkauft worden.
Die Einheit 29155 sei dann aber auch daran beteiligt gewesen, die bulgarische Rüstungsindustrie «im Grossen und Ganzen mit Sprengkörpern ins Visier zu nehmen».
Die Sprengstoffanschläge auf Munitionslager sind besonders brisant, weil Bulgarien NATO-Mitglied ist und ein russischer Angriff gar den Bündnisfall hätte auslösen können.
Inzwischen ermittelten tschechische und bulgarische Staatsanwälte gegen Russland und den Militärgeheimdienst GRU, sagt Grosew. Doch damals sei nichts unternommen worden.
Ja, gemäss Grosew trifft das zu. Er sei sich sicher, dass es die westlichen Geheimdienste vermasselt hätten.
Die Agenten der Einheit 29155 seien mindestens ein Jahrzehnt lang in Europa, Asien und Amerika unterwegs gewesen, hätten Dinge in die Luft gesprengt und dabei Spuren hinterlassen. «Sie wollten erwischt werden, aber niemand tat es.»
Zu konkreten Plänen ist nichts bekannt. Doch laut Grosew ist davon auszugehen. Und die Gelegenheit hätte durchaus bestanden, wie «The Insider» recherchiert hat.
Demnach war es der Einheit 29155 gelungen, einen Agenten ins direkte Umfeld des russischen Schachweltmeisters und Aktivisten einzuschleusen. Bekanntlich zählt Garri Kasparow, der seit 2014 die kroatische Staatsbürgerschaft hat, zu den schärfsten Kritikern des russischen Präsidenten.
Zu ihrer Bestürzung hätten sie bei den Recherchen festgestellt, dass dieser Agent unter falscher Identität zu einem respektierten Mitglied mehrerer oppositioneller russischer Gruppen im Ausland geworden war. Sie seien als Menschenrechtsorganisationen in Europa und den USA tätig gewesen. Und der russische Agent sei auf Fotos von öffentlichen Veranstaltungen gemeinsam mit Kasparow zu sehen.
Grosew sagt, er habe Kasparow vor der Veröffentlichung der Recherche kontaktiert und gewarnt. Dieser habe sich bedankt und gesagt, er habe eigentlich damit gerechnet.
Einige dieser Leute würden jetzt verhaftet, sagt Grosew. Es sei ihm gelungen, eine Generation von Mördern ausser Gefecht zu setzen – und das sei keine schlechte Sache.
Der Investigativ-Journalist sagt, dass er selbst auch auf Putins Todesliste stehe. Tatsächlich habe jemand vom russischen Geheimdienst – angeblich ein Fan seiner Arbeit – Kontakt zu ihm aufgenommen, und diese Person habe ihn sehr deutlich gewarnt, dass sie den Beweis dafür gesehen habe.
Er könne sich durchaus vorstellen, dass bei der Einheit 29155 einige Menschen sehr wütend auf ihn seien.
Was die nahe Zukunft betrifft, ist der bulgarische Investigativ-Journalist vorsichtig optimistisch, gibt sich aber keiner Illusion hin.
Die enttarnten Agenten, die nicht mehr nach Europa reisen und im Westen keine Dinge mehr in die Luft jagen können, würden höchstwahrscheinlich als Berater, als Trainer oder als Attentäter in Afrika und im Nahen Osten eingesetzt.
Ich kann allen Interessierten nur empfehlen, ab und zu auf der Webpage von «The Insider» vorbeizuschauen, denn dieses Medium hat neben vielen News auch regelmässig interessante Storys zu bieten.
Und: Der dieser Watson-Story zugrunde liegende Artikel, bzw. das Interview, ist hier zu finden: 😉
22.1.24: «Unmasking GRU Unit 29155: Christo Grozev explains how he helped expose the Russian spies creating chaos in the West» https://theins.ru/en/politics/268521