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Einheit 29155: Wie Putins geheime Killer-Truppe enttarnt wurde

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Der Giftanschlag 2018 in Salisbury löste umfangreiche Recherchen aus.Bild: AFP

Einheit 29155: Was Putins geheime Killer-Truppe anrichtete und wie sie enttarnt wurde

Agenten des russischen Militärgeheimdienstes stifteten jahrelang Chaos im Westen, vergifteten Putin-Gegner, spionierten und betrieben Sabotage. Dann deckten investigative Journalisten ihre Tarnidentitäten auf.
26.01.2024, 20:1802.04.2024, 08:52
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Das russischsprachige Investigativ-Medium «The Insider» vermittelt in einem kürzlich veröffentlichten Interview Einblicke in die Strukturen der Einheit 29155, die für Sabotage und Anschläge in ganz Europa zuständig sein soll.

«The Insider» und das Recherche-Netzwerk Bellingcat haben in den letzten Jahren ausführlich über den Kommandeur der Einheit berichtet. Dieser soll nun die Nachfolge des 2023 getöteten Söldnerführers Jewgeni Prigoschin antreten.

watson fasst die wichtigsten Punkte zusammen.

Woher wissen wir das?

Christo Grozew, Investigativ-Journalist, Bellingcat.
Christo Grosew.Bild: twitter.com

Von Christo Grosew, einem preisgekrönten bulgarischen Investigativ-Journalisten, Kommunikationswissenschaftler und Mitglied des Recherche-Netzwerks Bellingcat. Der 54-Jährige leitet beim russischsprachigen, Kreml-kritischen Medium «The Insider» ein eigenes Recherche-Team und hat kürzlich ein langes Interview zur Einheit 29155 gegeben. Das auf Englisch geführte Gespräch liegt als Video vor (siehe Quellen).

Schon im Oktober 2023 hatte «The Insider» mit einem Enthüllungsbericht zur Einheit 29155 für Aufsehen gesorgt. Darin ging es um einen Angriff auf ein bulgarisches Munitionsdepot im November 2011. Dieser Bombenanschlag stellte gemäss Bericht die erste bekannte Kriegshandlung Russlands gegen einen NATO- und EU-Mitgliedstaat dar.

Was macht die Einheit 29155 so gefährlich?

Es handle sich um eine grosse Einheit innerhalb des russischen Militärgeheimdienstes GRU mit rund 400 Mitgliedern. Ihr offizieller Zweck bestehe darin, Agenten «im Geschäft mit Explosionen, Sabotage und Attentaten zu schulen».

Diese Einheit habe in der Vergangenheit einige der bekanntesten Angriffe gegen den Westen und gegen Personen ausgeführt, die Wladimir Putin als seine Feinde ansehe. Wie etwa den Giftanschlag auf den (inzwischen inhaftierten) Oppositionellen Alexei Nawalny in Grossbritannien, 2020.

Innerhalb der Einheit gebe es eine namenlose Untereinheit. Manchmal werde sie als K2 bezeichnet, manchmal als K200, aber es sei eine Untereinheit von 29155, die internationale Operationen für den Militärgeheimdienst ausführe.

Diese Untereinheit bilde einerseits Agenten aus, die sich als sogenannte Schläfer während ihres ganzen Erwachsenenlebens unauffällig im Ausland aufhielten. Das könne man sich wie in der TV-Serie «The Americans» vorstellen.

Andererseits würden auch Agenten ausgebildet, die jeweils nur für ein paar Wochen ins Ausland geschickt werden, und ihre falschen Identitäten seien deshalb russisch. Einige hätten ihre berufliche Ausbildung unter einer Tarnidentität absolviert, wie etwa ein Filmregisseur, der später die Künstlerkreise in Barcelona infiltrierte. Oder ein Mann, der jeweils als ausgebildeter Versicherungsmakler ins Ausland reiste.

Ab 2007, 2008 sei es der Einheit dank grosser Investitionen gelungen, um die 70 Tarnidentitäten aufzubauen.

«Diese 70 Menschen sind in den letzten 15 Jahren um die Welt gereist, haben Brücken und Munitionsanlagen in die Luft gesprengt, Menschen getötet und oppositionelle Diaspora-Gruppen Russlands infiltriert.»

Was wissen wir über den Kommandeur?

Der langjährige Oberbefehlshaber der Einheit 29155 sei kürzlich neben Putin sitzend fotografiert worden: General Andrej Awerjanow, geboren 1967 in Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans.

Grosew sagt über den GRU-Offizier:

«Alles, was diese Einheit getan hat, wurde ihm zugeschrieben. Er selbst machte sich gern die Hände schmutzig und reiste unter einer falschen Identität zu einigen dieser Operationen, zu den wichtigsten. Diese Risikobereitschaft weiss Putin offenbar zu schätzen.»
General Andrej Awerjanow, Kommandeur der Einheit 29155.
General Andrej Awerjanow.Screenshot: YouTube

Gemäss «The Insider» ist Awerjanow mittlerweile aufgestiegen und von Putin zum Nachfolger des Wagner-Gründers Jewgeni Prigoschin ernannt worden. Damit wäre er für russische Sicherheitsbeziehungen im Ausland verantwortlich.

Awerjanow übernehme viele Funktionen, Netzwerke und Verbindungen im Nahen Osten und in Afrika von Prigoschin und dessen Söldnergruppe. Sie sei im Auftrag des russischen Staates an mehreren Regimen in Afrika und im Nahen Osten beteiligt und sorge für die Sicherheit all der Diktatoren.

«Ob er alle Märkte und alle Länder erobern wird, in denen Prigoschins Armee diese schändlichen Dienste geleistet hat? Ich glaube nicht, dass es alle sein werden, weil Putin jetzt niemandem mehr zutraut, derjenige zu sein, der die Schlüssel behält in ganz Afrika, im gesamten Nahen Osten. Aber zumindest für einen grossen Teil Afrikas und des Nahen Ostens ist Awerjanow dieser Mann.»

Wie konnte die Einheit enttarnt werden?

Auf die Einheit 29155 stiessen Grosew und sein Team eher zufällig: Sie recherchierten die Hintergründe des Giftanschlages 2018 im britischen Salisbury auf Sergei Skripal, ein in den Westen übergelaufener Offizier des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Bei dem Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok wurde auch Skripals Tochter verletzt und eine völlig unbeteiligte britische Frau starb, weil die Täter eine Parfümsprühflasche mit dem Gift liegen liessen.

Mit ironischem Unterton sagt der Investigativ-Journalist, dass Russland wahrscheinlich «die transparenteste Gesellschaft der Welt» sei. Dies, weil man Daten über jede Person dort kaufen könne, und zwar nicht nur über normale Menschen, sondern auch über Spione. Das wiederum liege an der Korruption der russischen Strafverfolgungsbehörden.

Anhand von gekauften russischen Telefon-Metadaten und dem Abgleichen von Reisedaten sei es gelungen, ein ganzes Netzwerk von Agenten aufzudecken.

«Wir haben dieses Universum von etwa 70 Attentätern entdeckt, die untereinander reden und sich an Weihnachten oder Silvester in Russland gegenseitig anrufen. Am 23. Februar, dem Tag des Verteidigers des Vaterlandes, müssen Sie also mit den anderen konkurrieren, um als Erster den Boss anzurufen.»

Darüber hinaus seien die Agenten mit Pässen gereist, die leicht als gefälscht zu erkennen waren, weil sie alle in aufeinanderfolgenden Seriennummern auftraten.

Welches war der erste Anschlag der Einheit im Ausland?

Der Investigativ-Journalist erklärt, dass der Giftanschlag in Salisbury 2018 die unvorsichtigen russischen Agenten blossgestellt habe, aber es sei nicht das erste Mal gewesen, dass sie etwas in der Öffentlichkeit getan hätten.

«Wir wussten nicht, dass es diese Einheit gab. So fanden wir heraus, dass dieselbe Gruppe von Attentätern, darunter einer der Menschen, die in Salisbury gewesen waren, tatsächlich drei Jahre zuvor in Bulgarien gewesen war. Genau an dem Tag, als ein bulgarischer Waffenhändler, ein Waffenhersteller, an Symptomen erkrankt war, die den Nowitschok-Symptomen sehr, sehr ähnlich waren.»

Dieser Bulgare wollte zu Beginn der russischen Invasion in der Ostukraine im Jahr 2014 Waffen und Munition an die Ukraine verkaufen. Doch zu jenem Zeitpunkt habe niemand etwas über die Nervengift-Gruppe Nowitschok gewusst und auch nicht über die Existenz der Einheit 29155.

Der Mann habe den Anschlag knapp überlebt, und die Rüstungsgüter seien an die Ukraine verkauft worden.

«Wir haben mit Leuten gesprochen, die damals an der Beschaffung für die Ukraine beteiligt waren, und sie sagten, dieser Typ habe die Ukraine tatsächlich in den ersten Kriegstagen gerettet.»

Die Einheit 29155 sei dann aber auch daran beteiligt gewesen, die bulgarische Rüstungsindustrie «im Grossen und Ganzen mit Sprengkörpern ins Visier zu nehmen».

Nachbildung eines Sprengsatzes, verpackt in einem WLAN-Router, von Mitarbeitern der Einheit 29155.
Nachbildung eines von Mitarbeitern der Einheit 29155 erstellten Sprengsatzes, verpackt in einem WLAN-Router. Für die Zündung wurde die Fernbedienung einer Autoalarmanlage genutzt.Bild: Screenshot: YouTube

Die Sprengstoffanschläge auf Munitionslager sind besonders brisant, weil Bulgarien NATO-Mitglied ist und ein russischer Angriff gar den Bündnisfall hätte auslösen können.

Inzwischen ermittelten tschechische und bulgarische Staatsanwälte gegen Russland und den Militärgeheimdienst GRU, sagt Grosew. Doch damals sei nichts unternommen worden.

«Und weil es damals nicht geschah, gab es keine öffentliche Unterstützung für eine Konfrontation mit Russland – keine politische Unterstützung dafür, Russland entgegenzutreten und Fragen zu stellen oder Russland auch nur einen Preis aufzuerlegen.»

Haben die westlichen Geheimdienste versagt?

Ja, gemäss Grosew trifft das zu. Er sei sich sicher, dass es die westlichen Geheimdienste vermasselt hätten.

Die Agenten der Einheit 29155 seien mindestens ein Jahrzehnt lang in Europa, Asien und Amerika unterwegs gewesen, hätten Dinge in die Luft gesprengt und dabei Spuren hinterlassen. «Sie wollten erwischt werden, aber niemand tat es.»

«Sie existierten im wirklichen Leben nicht, aber sie erhielten Aufenthaltsgenehmigungen, und während des Visumantragsverfahrens hätte jemand herausfinden müssen, dass es sich nicht um echte Menschen handelt. Aber darüber hinaus reisten sie mit Pässen, die leicht als gefälscht zu erkennen waren.»

Sollte der Schachweltmeister Kasparow getötet werden?

Zu konkreten Plänen ist nichts bekannt. Doch laut Grosew ist davon auszugehen. Und die Gelegenheit hätte durchaus bestanden, wie «The Insider» recherchiert hat.

Demnach war es der Einheit 29155 gelungen, einen Agenten ins direkte Umfeld des russischen Schachweltmeisters und Aktivisten einzuschleusen. Bekanntlich zählt Garri Kasparow, der seit 2014 die kroatische Staatsbürgerschaft hat, zu den schärfsten Kritikern des russischen Präsidenten.

Zu ihrer Bestürzung hätten sie bei den Recherchen festgestellt, dass dieser Agent unter falscher Identität zu einem respektierten Mitglied mehrerer oppositioneller russischer Gruppen im Ausland geworden war. Sie seien als Menschenrechtsorganisationen in Europa und den USA tätig gewesen. Und der russische Agent sei auf Fotos von öffentlichen Veranstaltungen gemeinsam mit Kasparow zu sehen.

Grosew sagt, er habe Kasparow vor der Veröffentlichung der Recherche kontaktiert und gewarnt. Dieser habe sich bedankt und gesagt, er habe eigentlich damit gerechnet.

Welche Folgen haben die Enthüllungen?

Einige dieser Leute würden jetzt verhaftet, sagt Grosew. Es sei ihm gelungen, eine Generation von Mördern ausser Gefecht zu setzen – und das sei keine schlechte Sache.

Der Investigativ-Journalist sagt, dass er selbst auch auf Putins Todesliste stehe. Tatsächlich habe jemand vom russischen Geheimdienst – angeblich ein Fan seiner Arbeit – Kontakt zu ihm aufgenommen, und diese Person habe ihn sehr deutlich gewarnt, dass sie den Beweis dafür gesehen habe.

Er könne sich durchaus vorstellen, dass bei der Einheit 29155 einige Menschen sehr wütend auf ihn seien.

«Sie reisten mit unbegrenztem Kreditkarten-Guthaben um die Welt. Wir haben gesehen, dass sie während ihrer Auslandsreisen, die im nationalen Interesse Russlands liegen sollten, Partys mit Prostituierten veranstalteten. Sie kauften mit den von der GRU ausgegebenen Kreditkarten Kleidung, teure Parfümerien und Schmuck. Nicht nur für ihre Frauen, sondern auch für ihre Geliebten, für die Kinder ihrer Geliebten, was darauf hindeutet, dass es vielleicht auch ihre Kinder sind. Und so weiter und so fort.

Sie führten ein Leben, das sich nur wenige Russen leisten konnten, und plötzlich müssen sie in einem kleinen Dorf ausserhalb von Selenograd in der Nähe von Moskau festsitzen und andere Menschen im Schlamm trainieren. Ich denke, dass das grosse Wut hervorruft.»

Was die nahe Zukunft betrifft, ist der bulgarische Investigativ-Journalist vorsichtig optimistisch, gibt sich aber keiner Illusion hin.

«Es wird einige Jahre dauern, bis Russland eine neue Generation gleich oder besser ausgebildeter Spione hervorbringen kann. Ich denke also, wir leben in dieser ‹Twilight Zone› zwischen zwei Generationen von Attentätern.»

Die enttarnten Agenten, die nicht mehr nach Europa reisen und im Westen keine Dinge mehr in die Luft jagen können, würden höchstwahrscheinlich als Berater, als Trainer oder als Attentäter in Afrika und im Nahen Osten eingesetzt.

Quellen

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60 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Emma Schmid
26.01.2024 21:11registriert April 2018
Grossartige Arbeit der Investigativ-Journalisten. Herzlichen Dank speziell an Christo Grosew. Die Demokratien müssen jeden Tag gerettet werden. Putler und seine Schergen haben nur ihre eigene Macht und den Zerfall der Demokratien im Auge. "Nünntigi Sieche" (wie im Dorf jeweils gesagt wurde).
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Juliet Bravo
26.01.2024 21:27registriert November 2016
Was meint ihr, wer solche Ganzseitigen Inserate (wie gestern) in der NZZ finanziert und die Weltwoche finanziell über Wasser hält?
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MartinZH
26.01.2024 21:10registriert Mai 2019
Übrigens: Das russischsprachige Investigativ-Medium «The Insider» verfügt auch über einen englischsprachigen Auftritt: https://theins.ru/en

Ich kann allen Interessierten nur empfehlen, ab und zu auf der Webpage von «The Insider» vorbeizuschauen, denn dieses Medium hat neben vielen News auch regelmässig interessante Storys zu bieten.

Und: Der dieser Watson-Story zugrunde liegende Artikel, bzw. das Interview, ist hier zu finden: 😉

22.1.24: «Unmasking GRU Unit 29155: Christo Grozev explains how he helped expose the Russian spies creating chaos in the West» https://theins.ru/en/politics/268521
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