Nach etwa 40 Stunden Spielzeit bin ich müde, fühle mich ausgelaugt, aber auch glücklich und etwas stolz, dass ich es bis zum Schluss durchgezogen habe. Das war nicht immer einfach, zumal in den ersten Spielstunden nicht viel passiert und die Langeweile öfters Platz auf dem Sofa nahm. Doch nach jeder Durststrecke, nach jedem Frustanfall folgten Glücksgefühle und intensive Erfolgsmomente. Ja, meine Beziehung zu «Death Stranding» ist immer noch etwas kompliziert, doch wir haben uns jetzt arrangiert. Doch der Reihe nach...
Um was geht es denn nun in diesem ominösen «Death Stranding»? Selbst nach Spielende weiss ich das immer noch nicht so genau. Die abstruse Story wirft auch am Schluss noch zahlreiche Fragen auf. Da kann Hideo Kojima noch so lange und ausufernde Zwischensequenzen präsentieren, jede einzelne Wissenslücke wird kaum gestopft.
Die Ausgangslage könnte man in etwa so zusammenfassen: Nach einem mysteriösen Ereignis in der fernen Zukunft hat sich das Bild der Gesellschaft negativ verändert. Die Welten der Lebenden und der Toten haben sich vereint. Schwarze Geisterwesen wandeln über das Angesicht der verwüsteten Erdoberfläche, hinterlassen eine Schneise der Zerstörung und machen Jagd auf die überlebenden Menschen, die sich hauptsächlich in Bunkern oder in abgeschotteten Metropolen verschanzt haben. Mysteriöse Regenfälle erschweren das Leben zusätzlich. Denn wird man von den Regentropfen berührt, beginnt man sofort ganz schnell zu altern und stirbt schliesslich.
In dieser postapokalyptischen Welt haben sich die USA aufgelöst. Doch weil man nur zusammen überleben kann, wollen ranghohe Regierungsvertreter nicht aufgeben und eine neue Gemeinschaft in Nordamerika gründen. In diesem Vorhaben bekommt der einfache Paketbote Sam Porter (Norman Reedus, bekannt aus der Zombie-Serie «The Walking Dead») eine schicksalhafte Rolle verpasst.
Denn in dieser hoffnungslosen und tristen Welt sind die Paketboten die neuen Superstars. Weil die Menschen die Oberfläche meiden aber dennoch auf Hilfsgüter und Technologie angewiesen sind, werden die Lieferdienste verehrt. Diese harten Männer und Frauen, die sich in die Wildnis wagen und kilometerlange Strecken hinter sich lassen, sind also sehr gefragt. Sam Porter hat sich bereits einen Namen gemacht und die Konkurrenz oft weit hinter sich gelassen.
Doch Sam hat noch einen anderen, sehr grossen Vorteil: Er ist irgendwie unsterblich und kann sich gegen die Geisterwesen zur Wehr setzen. Normalerweise sind diese übersinnlichen Erscheinungen kaum wahrzunehmen, aber Sam trägt ein spezielles Baby in einem Hightech-Behälter vor der Brust, das sich in der Nähe der Spukgestalten mit der Hilfe modernster Technik bemerkbar macht und als biologisches Alarmsystem funktioniert. Ja, das klingt alles sehr abgefahren und ist es auch.
Dann wäre da noch seine enge Beziehung zur Regierungselite, die wir hier aber auf keinen Fall verraten werden. Er ist also ein Auserwählter und wird schliesslich dazu überredet, dass er die zersplitterten Ortschaften, die abgeschotteten Städte an ein gemeinsames Netzwerk anschliesst und alle wieder vereint. Auf seiner langen Reise macht er Bekanntschaft mit eigenwilligen Figuren wie die Lieferantin Fragile (Léa Seydoux) oder Cliff (Mads Mikkelsen), dessen genaue Rolle wir hier ebenfalls nicht verraten werden.
Das Grundprinzip des Spiels ist einfach: Verschiedene Pakete mit unterschiedlichen Inhalten müssen von A nach B gebracht werden, um die Menschen zu erfreuen und sie für einen neuen Zusammenschluss zu überzeugen. Also schnallt sich Sam die oft schwere Fracht auf den Rücken und wandert über Stock und Stein, durchquert wilde Flüsse und kämpft gegen Wetterkapriolen.
Sam benutzt ausfahrbare Leitern zum Überqueren von Schluchten, nimmt ein Seil, um zu klettern und muss stets auf sein Gleichgewicht achten, damit er nicht umkippt und so seine Ware beschädigt oder gar verliert. Dabei sollte er sich regelmässig ausruhen, öfters mal neue Wanderschuhe anfertigen lassen und die Umgebung im Auge behalten. Denn in der wunderschönen aber rauen Natur lauern Gefahren.
In der dystopischen Welt warten gefährliche Banditen auf die Lieferanten, um sie auszurauben. Noch gefährlicher sind jedoch die Terroristen, die einen neuen Zusammenschluss in Nordamerika verhindern möchten. Und schliesslich sorgen die Geisterwesen bei strömenden Regenfällen für Nervenflattern. Zu Beginn sind diese Schreckgestalten nicht angreifbar. Erst später erhält Sam diverse Möglichkeiten, sich diesen übernatürlichen Wesen zu entledigen. Auch fahrbare Untersätze und andere technische Hilfsmittel dürfen mit der Zeit gebraucht respektive angefertigt werden.
Auch wenn die Spielmechanik behutsam und Schritt für Schritt aufgezeigt wird, im Menü kann man sich sehr schnell verirren. Verschachtelte Unterebenen, nicht logische Anordnungen und die eine oder andere Sackgasse sorgen für Frust.
Selbst nach etwa 10 Stunden Spielzeit habe ich mich öfters darin verloren. Vor allem kostet das alles noch mehr Zeit, als man sonst schon ins Spiel investieren muss. Der Bau einer simplen Brücke wurde bei mir beispielsweise zur reinen Nervensache.
Und auch die Anfertigung von neuen Schuhen und die anschliessende Montierung an die geschundenen Füsse wurden zum Spiessrutenlauf innerhalb des überfrachteten Menüs. Hat man sich dann nach vielen Versuchen endlich damit angefreundet, gibt es prompt noch mehr neue Möglichkeiten, sich in diesem Labyrinth zu verlieren.
«Death Stranding» sieht schlicht fantastisch aus. Die Zwischensequenzen sind eine Wucht, die begehbaren Landschaften atemberaubend und das selbstverliebte Artdesign von Hideo Kojima tropft aus jeder digitalen Pore. Jede kleinste Schraube, jeder kleinste Stofffetzen, jeder kleinste Grasbüschel passt perfekt in diese von Null auf konstruierte Science-Fiction-Welt.
Die Liebe zum Detail, die sich mit der Liebe zum Medium Videospiel und auch zum Medium Film paart, ist etwas, was der japanische Stardesigner perfekt beherrscht. Auch wenn man kein Kojima-Fan ist, muss man neidlos zugeben, dass sich dieser fast schon wahnsinnig anmutende Hang zur Perfektion sehen lassen kann.
Dieses Videospiel lässt sich nicht nur sehen, sondern auch hören. Der ausgewählte Soundtrack wiedergibt die dystopische Atmosphäre perfekt. Mal ist er melancholisch, mal beängstigend psychedelisch, dann wieder frohlockend und versöhnlich ehe er wieder bis in Mark vordringt und den Körper durchrüttelt.
Audiovisuelle Highlights sind stets jene Passagen, wenn man aus einer Gefahrenzone tritt und kurz vor dem Ziel ist. Dann ertönt ein ausgewähltes Musikstück, wo sogar Titel und Interpreten eingeblendet werden, das uns behutsam und mit guter Laune zur Endstation geleitet, um die Mission endlich abzuschliessen. In solchen Momenten werden ganz viele Glückshormone ausgeschüttet.
Die erzählte Geschichte in «Death Stranding» ist Kojima-like kurios und verschachtelt. Verschrobene Figuren, die stets stylisch gekleidet sind, treffen auf noch groteskere Charaktere, die mit Masken vor ihren Gesichtern nach Liebe schreien oder in jeder einzelnen Szene Dinge für die Ewigkeit zu tun scheinen. Hideo Kojima hat in Sachen Story als auch Figurenzeichnung aus dem Vollen geschöpft und sich richtig schön ausgetobt. Man fühlt regelrecht, wie er die Freiheit seines eigenen Produktionsstudios in jeder Minute genutzt hat und ein Videospiel kreierte, das voll und ganz seinen Vorstellungen entspricht.
Bei allen abgefahrenen Ideen, die herumtummeln, sie müssen erst behutsam eingepflanzt werden, bis sie Früchte tragen. Will heissen, dass auch die Geschichte in «Death Stranding» viel Zeit braucht, bis sie sich so entwickeln darf, wie sie möchte. Denn auch hier nimmt sich der japanische Entwickler sehr viel Zeit, bis er alle Schachfiguren auf dem Brett aufgestellt hat. Also auch hier brauchen Spielerinnen und Spieler Toleranz, bis sie mit der vollen Kojima-Ladung erwischt werden.
Wenn dann nach etwa 20 Stunden Spielzeit die Sache langsam aber sicher intensiver und auch überraschender wird, ist das einerseits ein wunderschönes Geschenk, weil man bis hierhin so lange durchgehalten hat, auf der anderen Seite aber auch etwas frech, dass man der Geschichte nicht schon früher den nötigen Drive geschenkt hat.
Nein, ein komplett neues Genre hat Hideo Kojima nicht wirklich erschaffen. Im Grundgerüst ist «Death Stranding» ein reduziertes Action-Adventure mit einer Prise Strategie, wo überall mehrere Gänge zurückgeschaltet wurde. Kojima hat bewusst die Geschwindigkeit aus allen Spielanteilen genommen, um eine neue Erfahrung zu kreieren. Diese Art von Entschleunigung durften wir bereits in «Red Dead Redemption 2» erleben. In «Death Stranding» wird das einsame und lange Wandern in der freien Natur aber noch mehr in den Fokus gedrängt und gar auf die Spitze getrieben.
«Death Stranding» wurde wundervoll inszeniert und strahlt eine langatmige, einsame Atmosphäre aus, die man so in einem Videospiel noch nicht erleben durfte. Für ein spielerisches Meisterwerk fehlt es aber an durchgehender Motivation. Das Spiel besteht aus zahlreichen Hochs und eben auch einigen Tiefs. Zwar haben die unvergesslichen Ereignisse die Oberhand, aber sowohl in der Spielmechanik als auch im Aufbau der Dramaturgie gibt es Durststrecken.
Fazit: «Death Stranding» braucht am Anfang sehr viel Geduld. Bis man voll und ganz in die Spielmechanik eintauchen und sich ihr hingeben kann, wie es sich der Macher vorstellt, vergehen viele Spielstunden. Auch die Geschichte hat einen langen Atem und haut dem Spieler, der Spielerin erst in der zweiten Hälfte zahlreiche Dinge um die Ohren, die sich ihren festen Platz im Langzeitgedächtnis sichern dürfen.
Kojimas Science-Fiction-Spiel zeigt eindrücklich, wie detailverliebt, ja manchmal auch versessen der japanische Designer ist und eine Welt kreierte, die verspielter nicht sein kann. Es gibt zahlreiche Eastereggs, Anspielungen auf die Populärkultur und natürlich auf die Filmwelt, die ihn so sehr fasziniert, dass er gar nicht anders kann, als lange, intensive Zwischensequenzen auf uns loszulassen.
Ja, Kojima hat es stellenweise übertrieben. Zu oft stampft man durch die Pampa und macht dabei nichts, zu oft verliert man Zeit im überfrachteten Menü und zu oft will einfach gar nichts passieren. Er spielt dabei aber bewusst mit unserer Geduld: Wir Spielerinnen und Spieler sind verwöhnt von Videospielen, die schnell zur Sache kommen, von rasch erzählten Geschichten, die wir morgen schon wieder vergessen haben. «Death Stranding» ist da erfrischend anders. Wer sich auf diese lange Reise einlässt und bis zum Schluss durchhält, wird diese Erfahrung nie mehr vergessen.
«Death Stranding» ist erhältlich für Playstation 4 und freigegeben ab 18 Jahren.
Wie gefällt euch «Death Stranding»? Ist es für euch ein Meisterwerk oder lässt es euch kalt? Die Kommentarspalte ist geöffnet!
Boah, Kojima haut mich aus den Socken, dabei bin ich noch nichtmal an der Westküste.
Doch gewiss wird sich nicht jeder damit anfreunden können...