«Geht’s dir gut, bist du krank, hast du nicht geschlafen?» Solche Fragen muss man diese Tage einfach über sich ergehen lassen. Denn genügend Schlaf und die Teilnahme am sozialen Leben sind zu einem Luxusgut geworden. Schuld daran ist dieses «Red Dead Redemption 2», das uns Freunde der digitalen Unterhaltung in eine Welt hineinzieht, aus der wir gar nicht mehr herauskommen wollen. Termine werden abgesagt und Smartphones gleich direkt ausgeschaltet. Es gibt kein Entkommen. Wir liegen oder sitzen gespannt auf dem Sofa und kleben am Bildschirm fest. Der Wilde Westen ruft und mit ihm unvergessliche Spielstunden.
Mittlerweile wurde es von der Fachpresse bereits weltweit brav durchgetestet und auseinandergenommen. Es folgten Höchstwertungen und eine Lobhudelei nach der anderen. Da schliessen wir uns an. Doch bei aller Auflistung positiver Aspekte wie Top-Grafik, spannende Story und Langzeitspielspass, warum fasziniert dieses Spiel so sehr? Denn RDR2 erfindet das Game-Rad überhaupt nicht neu. Was also ist so faszinierend an diesem Outlaw-Abenteuer?
Eine opulente Spielwelt zu erschaffen, wo sich quasi Fuchs und Hase gute Nacht sagen, wird heute als Standard-Element in einem guten Videospiel erwartet. Gerade dann, wenn die Spielwiese riesig ist. Dass Rockstar das kann, haben die Damen und Herren schon öfters in der Vergangenheit bewiesen. Doch dieses Mal ist es etwas anders. Es ist nicht die sehr hohe Anzahl von Tieren, Pflanzen und Menschen, die im Wilden Westen tun, was sie tun müssen, sondern das Verhalten untereinander und vor allem wie sie auf den aktiven Spieler, die aktive Spielerin reagieren und Bezug nehmen. Es fühlt sich alles in dieser Welt dermassen rund und ungezwungen an, dass man es nicht glauben kann, dass es so einen intelligenten Algorithmus überhaupt in einem Videospiel gibt.
Wohin man auch reitet, wohin man auch geht, stets hat der Spieler, die Spielerin das Gefühl, dass hier ein Designer jedes einzelne Objekt von Hand hinein in die Spielwelt gepflanzt hat. Es scheint kein Zufallsfaktor für die üppige Flora und Fauna verantwortlich zu sein. Jeder Baum, jeder Grashalm, jedes Lebewesen wurde perfekt in die Umwelt integriert. Ob es tatsächlich so geschah oder doch ein komplexes Computerprogramm war, wissen wohl nur die Damen und Herren von Rockstar alleine. Aber das Ergebnis ist schlicht atemberaubend und zeigt, mit wie viel Liebe hier eine digitale Welt erschaffen wurde. Alleine die Beziehung zu seinem Pferd und die allgemeine Entwicklung zwischen Mensch und Tier mitzuverfolgen, ist ein Genuss.
Auch die vielen Menschen, denen man begegnet, sind ein Beweis für diese Entwicklerliebe. Sie reagieren auf den Antihelden. Wie man sich auch verhält, welche Aktionen man auswählt, um zu interagieren, sie alle scheinen Auswirkungen auf den weiteren Spielverlauf zu haben. Rettet man zum Beispiel eine junge Frau vor dem sicheren Tod, kann man fest davon ausgehen, dass sie auch im späteren Spielverlauf irgendwie und irgendwann wieder den Weg kreuzen und sich an den Helden erinnern wird.
Natürlich sind die Unterschiede zwischen dem aktiven Spielpart und den Zwischensequenzen immer noch ersichtlich. Aber die Übergänge verlaufen so fliessend und geschmeidig, dass man sich öfters dabei ertappt, dass man den Wechsel kaum oder gar nicht gespürt hat. Diese Einheit, dieser Guss hat uns schon beim letzten «God of War» im April total fasziniert. Neu ist das also eigentlich auch nicht, aber Rockstar setzt noch einen drauf, um eine noch wuchtigere Immersion zu präsentieren.
Mit der Möglichkeit, zwischen verschiedenen Kameraperspektiven zu wechseln und bei einigen Reitabschnitten zum Beispiel selbst sogar in die Totale überzugehen, während man sein Pferd brav steuert, entsteht dieser Sog, der dafür verantwortlich ist, dass wir stundenlang ohne Unterbrechung am Bildschirm kleben und nicht mitbekommen, wie die Stunden vergehen und plötzlich wieder Montag ist.
Hinzu kommt ein zusätzlicher, kleiner Trick, der uns das Gefühl vermittelt eine Einheit zwischen Spielabschnitt und Zwischensequenz zu konsumieren: Während bei den meisten Videospielen zwischen beiden Partien ein merklicher, meist optischer Unterschied zu erkennen ist, sind diese hier kaum mehr ersichtlich. Was man in den Zwischensequenzen optisch erleben darf und serviert bekommt, erhält man auch im aktiven Spielpart. So entsteht kein harter Schnitt, sondern eine Nahtlosigkeit zwischen den zwei Bestandteilen eines Videospiels. Der Spieler, die Spielerin bleibt so immer konstant in der Welt ohne gross herausgerissen zu werden. Nur der Tod der Spielfigur oder der Wechsel ins Menü unterbrechen diese ansonsten lückenlose Inszenierung.
Als die Europäer Nordamerika eroberten und dort einen Quadratmeter nach dem anderen besetzten, stand das Gesetz noch auf wackeligen Füssen. Der Westen war in der Tat wild und je mehr Menschen nach Westen wanderten, umso rauer wurde es. Doch nach und nach wurde das gesetzlose Chaos beseitigt. Die Zivilisation, die Industrialisierung und die Moderne eroberten das noch junge Land, das schon einige Kriege hinter sich hatte. Und genau in dieser unsicheren Zeit, wo Banditen und Gesetzlose gejagt wurden, um ihnen das Gesetz und die Zivilisation aufzudrängen, darf sich der Spieler, die Spielerin bewegen.
Man zieht sich dabei nicht nur die Stiefel eines Gangmitglieds an, sondern erlebt hautnah, wie es damals war, als man ständig auf der Flucht war, weil man nicht zur braven Norm gehörte. Dabei handelt die Geschichte nicht nur von brutalen Outlaws, die lieber schiessen, statt zu diskutieren, sondern auch von Frauen und Männern, die in Nordamerika ihre Freiheit suchten, sie vorerst fanden, dann aber doch unter dem Knüppel der Moderne litten. Schon damals war es ein Land von unbegrenzten Möglichkeiten. Doch alles hatte seinen Preis. Und das wird auch dem Spieler, der Spielerin immer wieder bewusst und aufgezeigt.
Auf der Flucht vor Kopfgeldjägern und Gesetzeshütern flackert auch immer wieder die noch junge Geschichtsvergangenheit von Nordamerika auf. Der Sezessionskrieg, die Abschaffung der Sklaverei und neue politische Machtverhältnisse haben ihre Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Die hässlichen Kriegsjahre und das Leiden der Bevölkerung werden einem nicht nur in zahlreichen Nebenmissionen näher gelegt, sondern sind auch Bestandteil der Hauptgeschichte und haben die Hauptfiguren geformt, ihnen Ecken und Kanten verschafft. Auch wenn man den Outlaw Arthur Morgan steuern darf und er als Hauptprotagonist fungiert, alle Mitglieder der Gang-Familie und weitere Nebencharaktere sind wichtige Figuren, die nicht nur amerikanische Geschichte erzählen, sondern sie auch hautnah erleben lassen.
Fazit: Über die sagenhafte audiovisuelle Umsetzung muss man keine weiteren Worte verlieren. Rockstar hat hier die Messlatte weit nach oben gelegt. Nicht nur für weitere Produkte aus dem eigenen Haus, sondern auch für andere Mitbewerber in der Game-Industrie, die da noch kommen mögen. Was dieses Meisterwerk aber in höhere Sphären katapultiert, sind die perfekte organische Spielwelt und diese nahtlose Inszenierung, die wie aus einem Guss daherkommt. Zusätzlich vermittelt dieses Videospiel ein Stück amerikanische Geschichte und bettet diese in eine spannende Story ein, die viele, viele Spielstunden an den Bildschirm fesselt. Das beste Spiel des Jahres? Das muss jede und jeder für sich selber entscheiden. Auf jeden Fall ist «Red Dead Redemption 2» mehr als nur interaktive Unterhaltung. Das Ding ist ein Ereignis und ein Höhepunkt der Populärkultur, das aufzeigt, zu was ein Videospiel fähig ist.
«Red Dead Redemption 2» ist erhältlich für Playstation 4 und Xbox One. Freigegeben ab 18 Jahren. Eine PC-Version wurde noch nicht angekündigt.
Seid ihr auch schon intensiv im Wilden Westen unterwegs oder interessiert euch dieses Videospiel überhaupt nicht? Die Kommentarspalte ist geöffnet!
Auch die detail treue, die selbst die kleinste handbewegung miteinbezieht....
Ein meisterwerk der videospiel geschichte. Schon jetzt.