Nichts weist an jenem Tag vor 50 Jahren darauf hin, dass sich in einem Computerlabor an einer Universität in Los Angeles Weltgeschichte abspielen wird. Wochenlang hatten der Ingenieur Leonard Kleinrock und sein Team Kabel verlegt, Computer programmiert, eine Verbindung zwischen den Rechenmaschinen und dem Telefonnetz geschaffen. Am 29. Oktober 1969 ist schliesslich der entscheidende Tag gekommen.
Kleinrocks Computer in Los Angeles soll mit einem zweiten Rechner im heutigen Technologie-Mekka Silicon Valley verbunden und zum Datenaustausch gebracht werden. Die erste Verbindung bricht bereits nach Sekunden ab. Doch beim zweiten Versuch klappt es – der Vorläufer des Internets ist geboren.
Damals ist es eine Revolution: Zwei Computer, die über eine Telefonleitung Daten austauschen. Heute ist die digitale Vernetzung der Welt allgegenwärtig. Rund vier Milliarden Menschen rund um den Globus nutzen das Netz um sich zu bilden, für Dienstleistungen oder zur Unterhaltung – aber zunehmend auch für die Verbreitung extremer Standpunkte, von Hass oder Gerüchten.
Diese weitreichenden Folgen lassen Pionier Kleinrock heute mit seiner Schöpfung hadern. «Ich habe den Aspekt der sozialen Netzwerke überhaupt nicht kommen sehen», sagt der heute 85-Jährige, der derzeit mit dem «Connection Lab» in Los Angeles ein neues Technologie-Labor eröffnet, das sich mit den negativen Auswirkungen des Internets befasst.
Das Internet sei eine sehr demokratische Erfindung, sagt Kleinrock. «Aber wie wir festgestellt haben, ist es auch eine perfekte Formel für die dunkle Seite der Menschheit.» In Online-Netzwerken werde «so viel herausgeschrien, dass gemässigte Stimmen untergehen und extreme Sichtweisen verstärkt werden». Ein mittlerweile zum geflügelten Wort gewordener Satz bringt Kleinrocks Aussage auf den Punkt: «Das Internet macht Schlaue schlauer und Dumme lauter».
Als Ingenieure hätten sie nicht an das «böse Verhalten» gedacht, zu dem Menschen fähig seien, sagt Kleinrock. Hätten er und sein Team Instrumente zur besseren Authentifizierung von Benutzern und Dateien entwickelt, hätte dies die «dunkle Seite» des Netzes zwar nicht verhindert, «aber es hätte sie abgemildert». Kleinrock spielt darauf an, dass die Internet-Pioniere das Netz quasi ohne eingebaute Sicherheitsfunktionen planten. Dieser Geburtsfehler erleichtert bis heute Kriminalität und Spionage, aber auch Desinformations-Kampagnen und Hass-Rede im Internet.
Verständlicherweise lagen staatliche Massenüberwachungsprogramme der NSA wie PRISM, das 2013 von Whistleblower Edward Snowden publik gemacht wurde, jenseits der Vorstellungskraft der damaligen Informatiker.
Es wäre praktisch, wenn man via Telefonleitung Daten hin- und herschicken könnte, dachte sich der Ingenieur Kleinrock schon Anfang der 60er-Jahre. Damals tauschten Wissenschaftler ihre Daten noch per Post aus. Disketten gab es erst ab 1969, Fax ab 1974.
Ein Schlüssel für die Vernetzung von Computern ist ab 1969 die Fähigkeit, Informationen in kleine digitale Datenpakete herunterzubrechen und auf diese Weise versandfähig zu machen. Kleinrock legt bereits 1962 darüber eine Doktorarbeit vor. Als er seine Idee den Telefongesellschaften zum Kauf anbietet, hagelt es aber Absagen.
Finanziert wird das Projekt schliesslich vom Forschungsarm des US-Militärs Arpa. Diesen hatte die Regierung in Washington 1958 gegründet, um das Land im Technologiewettlauf mit der Sowjetunion voranzutreiben. Das Computernetzwerk heisst deshalb zunächst Arpanet; offen steht es nur einer kleinen Gruppe von Forschern.
In den folgenden Jahren entwickelt sich das Netzwerk zunächst langsam. Erst 1973 wird Europa angeschlossen. Noch in den frühen 1990er Jahren ist es nur wissenschaftlichen Experten bekannt. Doch dann beschleunigt eine rasche Abfolge von Innovationen die Verbreitung des Internets. 1989 etwa erdenkt der Brite Tim Berners-Lee am Cern bei Genf das System für einen Datenaustausch über das World Wide Web (WWW). Auch Berners-Lee blickt inzwischen kritisch auf den Zustand des Netzes und betont, dass das Web der Menschheit dienen müsse: «Das Netz, das viele vor Jahren verwendet haben, ist nicht mehr vergleichbar mit dem, was neue Nutzer heute vorfinden. Was einst ein reichhaltiges Angebot an Blogs und Webseiten war, ist unter dem Gewicht von ein paar mächtigen Plattformen komprimiert worden.»
Berners-Lees Kritik zielt auf Plattform-Giganten wie Apple, Amazon, Google, Facebook und Microsoft, die ihre Nutzer mit ihrer Marktmacht an sich binden und das Internet in eine Geldmaschine verwandelt haben. Sei es mit sozialen Netzwerken, Messenger-Apps, App-Stores oder Cloud-Lösungen. Im heutigen Internet, das von Tech-Giganten dominiert wird, ist Gewinnmaximierung die herrschende Maxime des Handelns. Für Berners-Lee ist diese Entwicklung ein Gräuel. Er will daher die Regierungen dazu verpflichten, dass jedermann Zugang zum Internet erhält, dass alles im Netz zugänglich ist und dass das Recht auf Privatsphäre gilt.
Nach Auffassung von Olaf Kolkman, Chef der Nichtregierungsorganisation Internet Society, ist das Netz zu seinem 50. Geburtstag vergleichbar mit einem «rowdyhaften Teenager». Doch insgesamt habe das Internet «mehr Gutes als Schlechtes» bewirkt, sagt er.
Auch Internet-Pionier Kleinrock bleibt optimistisch. «Ich bin immer noch der Meinung, dass die Vorteile weitaus überwiegen», sagt er. Hoffnungen setzt er unter anderem in die Blockchain-Technologie, auf die sich nach seiner Einschätzung ein auf verlässlicher Reputation basierendes Netzwerk stützen könnte – etwa was die Glaubwürdigkeit von Nutzerbewertungen bei einer Restaurantkritik angeht.
Skeptisch blickt er hingegen auf kommerzielle Anbieter, die online überflüssige oder längst überholte Dinge anbieten und dabei aus Profitinteressen womöglich auch noch gegen Persönlichkeitsrechte und den Datenschutz verstossen. Dennoch, sagt er: «Ich würde das Internet nicht abschalten, selbst wenn ich könnte.» (oli/sda/afp)