Wenn Demokratiefeinde etwas hassen, sind es unbequeme Wahrheiten, die sie als Lügner entlarven.
Dies zeigt sich bei Wikipedia. Die weltweit populäre Online-Enzyklopädie sieht sich zunehmend mit Attacken von rechten und rechtsextremen Akteuren in aller Welt konfrontiert. Eine besonders fragwürdige Rolle spielt dabei Elon Musk, der reichste Mensch der Welt.
Doch es gibt auch gute Nachrichten. Und wir müssen über Sockenpuppen reden.
Fakten bilden die Grundlage jeder freien und demokratischen Gesellschaft. Um sinnvoll über ein Thema diskutieren zu können, braucht es verlässliche Informationen, wie sie Wikipedia bereitstellt. Und genau dies ist mächtigen Demokratiefeinden wie Musk ein Dorn im Auge.
Das war nicht immer so. Noch vor dem Kauf von Twitter und bevor seine Online-Radikalisierung quasi in Echtzeit auf seiner eigenen Social-Media-Plattform zu beobachten war, zeigte sich Musk als Wikipedia-Fan.
Doch dann kippte es ins Gegenteil.
Während Techmilliardär Musk «seinen Kreuzzug gegen Wikipedia» heute als prinzipiellen Kampf gegen Voreingenommenheit darstelle, offenbare die Chronologie seiner Beschwerden eine persönlichere Motivation. Dies konstatiert die amerikanische Software-Entwicklerin und Wikipedianerin Molly White. Sie hat sich in einem Anfang Jahr veröffentlichten Beitrag mit den Vorgängen rund um Musk und Wikipedia befasst.
Der Aufstieg der MAGA-Rechten in den Vereinigten Staaten habe «einige überraschende Veränderungen in der Einstellung zur Medien- und Meinungsfreiheit ausgelöst», ruft die unabhängige Online-Publikation 404 Media in einem aktuellen Artikel in Erinnerung.
Die Einschätzung stammt vom US-Journalisten Jason Koebler, dem Co-Gründer von 404 Media und früheren Chefredaktor von Motherboard («Vice»).
Zur Erinnerung: Wikipedia wird von einer gemeinnützigen Organisation, der Wikimedia Foundation, betrieben und von Freiwilligen rund um den Globus gepflegt.
Wie Koebler berichtet, entwickelt die Wikimedia Foundation nun neuartige Tools (Werkzeuge), um die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer zu schützen. Sie sollen ihre wertvolle, ja unbezahlbare Arbeit für die Wissens-Plattform anonym leisten können. Nur so könnten sie Belästigungen und rechtlichen Drohungen entgehen.
Elon Musk und die Heritage Foundation wollen ihre Angriffe auf wahrheitsliebende Wikipedia-Autoren verstärken, wie ein geleaktes Dokument zeigt.
Falls du die rechtskonservative, sehr einflussreiche US-Denkfabrik nicht gekannt hast: Der derzeit unter Elon Musk und Donald Trump stattfindende Umbau der US-Regierung und die Zerstörung wichtiger staatlicher Institutionen geht auf die Heritage Foundation und deren 2024 geleaktes «Project 2025» zurück. Es ist eine 900-seitige «Wunschliste», was alles geändert werden soll, um aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten einen erzkonservativen Gottesstaat und einen Selbstbedienungsladen für Tech-Oligarchen zu machen.
Das von der Heritage Foundation erstellte Dokument mit dem Titel «Wikipedia Editor Targeting» verrät, wie die Wikipedia-Community mit ausgeklügelten Attacken verunsichert und entmutigt werden könnte.
Das sogenannte «Doxxing», also die Offenlegung der Identität anonymer Wikipedianer, verstösst gegen die Regeln der Wissens-Plattform und kann gemäss deren Richtlinien zur Sperrung von Usern führen.
Um sich gegen juristische Klagen zu wehren, beschäftigt die Wikimedia Foundation mehrere Anwälte. Und diese liessen gegenüber 404 Media verlauten, dass Wikimedia daran arbeite, die Menge an Daten zu verkleinern, die die Organisation über einzelne User gespeichert habe. So würden etwa mit Bearbeitungen verknüpfte IP-Adressen, die Rückschlüsse auf die Identität ermöglichen könnten, nach 90 Tagen gelöscht oder anonymisiert.
Wikimedia habe ausserdem ein Rechtsschutzprogramm ins Leben gerufen, das in gewissen Fällen die Verteidigung von Wikipedia-Redakteuren finanziert, die mit Klagen attackiert werden. Der juristische Schutz gelte für Wikipedianer oder Mitarbeiter, die in gutem Glauben an einem Wikimedia-Projekt mitgearbeitet haben.
Nein, definitiv nicht.
Niemand wird behaupten, dass Wikipedia frei von inhaltlichen Fehlern ist. Das hängt direkt mit der Funktionsweise der Wissens-Plattform zusammen. Wer will, kann eigene Beiträge zu neuen Themen erstellen, aber auch bestehende Beiträge bearbeiten und ergänzen.
Hinter den Kulissen von Wikipedia findet ein stetiger Kampf um die Deutungshoheit statt. Zwar verfügt die Online-Enzyklopädie über ein ausgeklügeltes Moderations-System und strenge Transparenzregeln. Ohne Angabe von verlässlichen Quellen geht nichts. Doch gerade bei kontroversen politischen und gesellschaftlichen Themen kommt es zu inhaltlichen Streitigkeiten.
Eine problematische Rolle beim Kampf um die Deutungshoheit bei Wikipedia spielt die US-Lobbyorganisation Anti-Defamation League (ADL), die gegen Diskriminierung und Diffamierung von Juden eintritt.
Bei den Wikipedianern ist die ADL in Verruf geraten, weil sie legitime Kritik am Staat Israel als Antisemitismus verunglimpfte. Zuletzt sorgte sie allerdings für Schlagzeilen, weil sie den zweimaligen Hitlergruss von Elon Musk bei Trumps Wahl-Party verharmloste.
Im Sommer 2024 stimmte eine Mehrheit der Wikipedianer dafür, die ADL in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt als «allgemein unzuverlässig» zu erklären und sie in eine Liste verbotener und teilweise verbotener Wikipedia-Quellen aufzunehmen.
Wikipedia ist natürlich nicht nur durch erzkonservative Kräfte und religiöse Fundamentalisten in Amerika bedroht. Auch in Europa laufen heimliche Bestrebungen, die freie Wissens-Plattform zu zerstören.
Die deutschen Investigativjournalisten Christoph Schattleitner und Daniel Laufer haben sich intensiv mit rechtsextremen Beeinflussungsversuchen in der deutschsprachigen Wikipedia befasst. Ihre Recherchen haben die beiden Journalisten im hörenswerten Podcast «Sockenpuppenzoo» veröffentlicht (siehe Quellen).
Demnach haben Rechtsextremisten in den vergangenen Jahren die Offenheit von Wikipedia ausgenutzt, um Inhalte und Diskurse unerkannt zu manipulieren.
Die Angreifer schrieben mithilfe von hunderten von Fake-Profilen – Sockenpuppen genannt – bestehende Wikipedia-Artikel zur deutschen Geschichte um. Sie flochten Lügen ein und relativierten und verharmlosten den Holocaust, also die millionenfache Ermordung von jüdischen Menschen durch die Nationalsozialisten. Doch zum Glück stellte sich den Neonazis eine Handvoll Wikipedianerinnen und Wikipedianer mutig entgegen.
Die beiden Journalisten betonen:
Festzuhalten bleibt, dass die Wikimedia Foundation wegen der zunehmenden juristischen Bedrohung durch rechte Interessengruppen zu Sockenpuppen-Accounts greift, um die Wikipedianer zu schützen.
Wenn Freiwillige besonders heikle Wikipedia-Beiträge bearbeiten, können sie in einigen Sprachen legitime «Wegwerf-Profile» nutzen. Natürlich sind diese legitimen Sockenpuppen den Wikipedia-Administratoren der jeweiligen Themen bekannt, wie 404 Media schreibt.
Die Wikimedia Foundation hatte schon in ihrem Jahresplan 2024/2025 auf eine zunehmend schwierige Situation für die Wikipedia-Community hingewiesen.
Generative KI bringt «neue Herausforderungen, aber auch Chancen mit sich», heisst es dort weiter. Der Wert der von Menschen verwalteten Inhalte von Wikimedia in einer Welt voller KI-Inhalte sei beträchtlich. Um relevant zu bleiben, müsse man die Bedrohungen überwinden, denen die Wikipedia-Community ausgesetzt sei.
Die Verantwortlichen halten fest, dass nicht nur in Nordamerika «das Recht als Waffe» eingesetzt wird. Bereits in einigen europäischen Ländern seien Klagen von Personen erfolgreich gewesen, denen die verifizierten Informationen auf Wikipedia-Seiten nicht gefielen.
Grundsätzlich ja. Tatsächlich verfügen die amerikanische Wikimedia Foundation und mit ihr verbundene Länder-Vereine über beträchtliche Geldreserven. Dies brachte den Digitalexperten und Rechtsanwalt Martin Steiger Ende 2023 zum Schluss, dass die regelmässigen Spendenaufrufe einen falschen Eindruck erweckten.
Sicher ist: Die Spendengelder fliessen weiter. Daran kann auch der reichste Wikipedia-Feind nichts ändern.
Elon Musk rief an Weihnachten 2024 zu einem Boykott der Online-Enzyklopädie auf. Er behauptete wahrheitswidrig, die Inhalte seien politisch nicht ausgewogen und sprach verunglimpfend von «Wokipedia».
Doch mit seinem Aufruf auf X, das Musk zu einer Desinformations-Waffe umgebaut hat, erreichte er genau das Gegenteil: Menschen rund um den Globus griffen zum Portemonnaie und spendeten noch mehr.
An den frei zugänglichen und täglich aktualisierten Spendenzahlen von Wikipedia war zu erkennen, dass die finanzielle Unterstützung nach Musks Aufruf deutlich anstieg. An den Tagen davor wurden zwischen 800'000 und 900'000 US-Dollar gespendet, nach Musks Boykott-Aufruf stiegen die täglichen Spendengelder auf eine Million und schliesslich bis zu 1,7 Millionen Dollar an.
Und unsere Bundesrätin findet das sehr demokratisch. 🤷🏻♂️