Am Wochenende befindet das Schweizer Stimmvolk über die Initiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache». Die Abstimmung ist bereits die siebte zu dem kontroversen Thema. Dass die politische Auseinandersetzung um die Abtreibung nie zum Stillstand kommt, ist nicht weiter erstaunlich. Für zutiefst moralische Problemstellungen gibt es keine politisch korrekte Lösung.
In der Abtreibungsdebatte stehen sich zwei ideologische Lager gegenüber. Pro-Life-Organisationen setzten sich für das Recht des Embryos auf die weitere Entwicklung in der Gebärmutter der Frau bis zur Geburt ein. Pro-Choice-Organisationen betonen das Recht einer Schwangeren, selber darüber entscheiden zu können, ob sie eine bestehende Schwangerschaft austragen und ein Kind zur Welt bringen will.
In der Schweiz wird seit dem Zweiten Weltkrieg über die gesetzliche Grundlage von Schwangerschaftsabbrüchen gestritten. Diese wurden schon immer vorgenommen, waren aber nur dann straffrei, wenn das Leben der Mutter in Gefahr oder das Ungeborene nicht lebensfähig war. Über die Zeit wurde die Handhabung je nach Arzt und Ort liberaler, allerdings ohne gesetzliche Grundlage.
Aus dieser unbefriedigenden Situation ging die Fristenregelung hervor. 2002 hiessen sie über siebzig Prozent der Stimmbürger an der Urne gut. Seither kann jede Frau während den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft einen straffreien Abbruch verlangen, wenn sie eine Notlage geltend macht. Der Eingriff gehört zum Leistungskatalog der Grundversicherung.
Pro-Life-Organisationen nahmen immer eine kompromissfeindliche Haltung ein. Der Akt der Abtreibung – das gewollte und mittels chemischer oder mechanischer Methoden herbeigeführte Beenden einer Schwangerschaft in sehr frühem Entwicklungsstadium – ist nie zu vereinbaren mit der Auffassung, dass jedem werdenden menschlichen Leben vom Moment der Zeugung an absoluter Schutz gewährt werden muss.
Die Debatten in der Politik und in der Öffentlichkeit werden darum auch hoch emotional geführt. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, gefälschte Zahlen, manipulierte Schätzungen und erfundene Geschichten von Betroffenen in Umlauf zu bringen. Dominic Höglinger ist Politikwissenschaftler an der Universität Zürich und hat die Abtreibungsdebatten in der Schweizer Presse analysiert. Seine Analysen zeigen, dass die beteiligten Akteure ausgewogen vertreten sind und beide Seiten in der öffentlichen Debatte zu gleichen Teilen präsent sind.
In der aktuellen Vorlage in der Schweiz erkennt er Parallelen zu den USA: «Auch dort übernehmen die fundamentalistischen Abtreibungsgegner inzwischen das traditionelle Vokabular der Liberalisierungsbefürworter und deuten es für ihre Zwecke um: Im Zentrum stehen nun auch für die Abtreibungsgegner die persönliche Freiheit (des Nichtmitbezahlen-Müssens) und die Kosten (für das öffentliche Gesundheitswesen). Offensichtlich glauben die Abtreibungsgegner selber nicht mehr, alleine mit moralischen Argumenten zu überzeugen.» Seine Untersuchung brachte ebenfalls zu Tage, dass in den Schweizer Medien der Gebrauch von radikalem und die Gegenseite diffamierendem Vokabular wesentlich häufiger vorkommt als in den USA.
Die Verlagerung des Diskussionsschwerpunktes und das Benutzen eines radikalen Vokabulars zeigen, dass es für ein derart schwieriges Thema wie die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs kaum einen gesamtgesellschaftlichen Konsens geben kann. Ganz neu ist der Fokus auf die Kosten zwar nicht: Bereits während der parlamentarischen Diskussion über die Fristenregelung wollten die Gegner die Finanzierung der Abtreibung nicht in den Leistungskatalog der Grundversicherung aufnehmen. Dies lehnte das Parlament allerdings ab.
Bei Licht betrachtet, ist die aktuell geführte Kostendiskussion eine reine Stellvertreterdebatte. Die Abtreibungen machen nur einen winzig kleinen Teil der milliardenschweren Gesundheitskosten aus. Darum sprechen die Initianten in ihrem Argumentarium auch noch von hohen Folgekosten, die durch Abtreibungen entstehen würden. Sie untermauern dieses Argument mit der Studie einer amerikanischen Psychologin. Diese fasst die Ergebnisse anderer Untersuchungen zusammen und folgert daraus, dass Frauen, die abgetrieben haben, überdurchschnittlich oft depressiv werden oder zu Drogen und Alkohol greifen.
Was die Initianten unterschlagen: Diese Studie wird von Fachkollegen als unbrauchbar taxiert. Die Untersuchung wurde 2011 publiziert und hat unzählige Reaktionen hervorgerufen. Kein einziger Wissenschaftler, der mit den gleichen Daten versucht hat, die Ergebnisse zu reproduzieren, fand die von der Autorin angeblich errechneten Zusammenhänge. Es lassen sich zwar Korrelationen finden zwischen Frauen, die abgetrieben haben und Frauen, die depressiv sind, doch wie diese als Kausalität dargestellt werden, ist unzulässig.
Die Datenlage zu den in der Schweiz durchgeführten Abtreibungen ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht schlecht. Es gibt keine Langzeituntersuchungen, die Rückschlüsse auf alle Frauen zulassen würden. Aus diesem Grund kann man auch keine Aussagen bezüglich der Folge einer Abtreibung auf die psychische Gesundheit einer Frau machen. Nur wenige Kantone erheben systematisch weitere Angaben zu den persönlichen Umständen der ungewollt Schwangeren. Die Nationalität ist bisher beispielsweise nur bei vier von zehn durchgeführten Eingriffen bekannt.
Dennoch steht im Argumentarium der Initianten, dass rund die Hälfte aller Eingriffe bei Ausländerinnen vorgenommen werden, «was die Vermutung nahelegt, dass die Abtreibung als kostenloses Verhütungsmittel missbraucht werde». Die Übertragung der Informationen aus 13 Kantonen auf die Gesamtschweiz bezeichnet das BFS allerdings als «statistisch unzulässige Verkürzung».
Man kann davon ausgehen, dass die Abtreibungsrate bei Ausländerinnen höher ist als bei Schweizerinnen. Allerdings betrifft dies viele Ausländerinnen, die über wenig Wissen bezüglich Verhütung verfügen und zum Teil aus Kulturen stammen, die ihnen kaum sexuelle Selbstbestimmungsrechte zugestehen.
Aufklärung und Zugang zu Verhütungsmitteln gelten als die wichtigsten Faktoren, damit es zu möglichst keiner ungewollten Schwangerschaft kommt. Das Initiativkomitee «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache» und das Initiativkomitee der soeben zustande gekommenen Initiative, die Sexualerziehung an Kindergärten und Primarschulen verbieten will, besteht aus mehrheitlich denselben Personen. Es geht den Initianten darum wohl nicht in erster Linie um Sparen und Eigenverantwortung.
Die anstehende Abstimmung werden die Abtreibungsgegner mit grosser Wahrscheinlichkeit verlieren. Aber sie haben sich mit ihren Anliegen erfolgreich zurück auf die politische Bühne gebracht. Für die Volksinitiative «Lebensschutz stopft Milliardenloch» läuft die Sammelfrist noch einige Monate. Sollte dieses unklar formulierte Volksbegehren je zur Abstimmung gelangen, wird die Schweiz eine Grundsatzdiskussion darüber führen müssen, was genau menschliches Leben sein soll, welches per Verfassungsartikel zu schützen wäre. Reproduktionsmedizin und Sterbehilfe stünden dann genauso im Fokus wie Abtreibungen.