Die Zeugen Jehovas glauben, dass Jesus seine Gegner vernichtet. Sind sie arm im Geist?
Selig sind die Armen im Geist, denn ihrer ist das Himmelreich. Dieser bekannte Spruch aus der Bergpredigt wirft grundsätzliche Fragen zum religiösen Verständnis der christlichen Heilslehre auf.
Muss ich, um richtig glauben zu können, Verstand und allenfalls auch Vernunft an der Garderobe abgeben, um richtig glauben zu können und am Jüngsten Tag erlöst zu werden? Ist die Ratio der Feind des Glaubens?
Irritierender Bibelspruch
Aus heutiger Sicht irritiert der Bibelspruch. Vernunft und Verstand sind in unserer komplexen Welt entscheidende Aspekte, um den Alltag zu bewältigen. Doch ausgerechnet in religiösen Belangen, in denen die Gefahr der Vereinnahmung und Manipulation besonders gross ist, sollen wir unser wichtigstes geistiges Werkzeug beiseitelegen?
Oder anders herum: Muss ich Vernunft und Verstand ruhigstellen oder verdrängen, wenn ich mich mit religiösen Phänomenen beschäftige?
Schaut man sich die Bibelinterpretationen und Dogmen von Freikirchen und teilweise auch der katholischen Kirche an, muss man die Frage mit Ja beantworten. Wer die Bibel mit wachem Geist liest, bleibt ratlos zurück, denn die Widersprüche sind offensichtlich und die Aussagen oft nicht kompatibel mit unserem aufgeklärten Weltbild. Ausserdem vertreten strenggläubige Christen nicht selten einen kindlichen Glauben.
Texte der Zeugen Jehovas dokumentieren es auf eindrückliche Weise. So operiert die Endzeit-Sekte gern mit ihrem strafenden Gott. In der Unterweisung mit dem Titel «Was wird Gottes Reich bewirken?» behaupten die religiösen Führer, Millionen Menschen – gemeint sind wohl ihre eigenen Gläubigen – würden daran arbeiten, «die Art Mensch zu werden, die sich Gott als Bürger seines Königreiches wünscht».
Danach offenbaren die Zeugen Jehovas ihr wahres religiöses Verständnis: «Obwohl Jesus bereits im Himmel regiert, existieren die menschlichen Regierungen immer noch.» Gott habe Jesus jedoch beauftragt, er solle mitten unter seine Feinde ziehen und sie unterwerfen, wie es in Psalm 110:2 heisse.
Dann kommt es knüppeldick: «Bald wird Jesus alle seine Gegner vernichten. Für Menschen, die so leben, wie Gott es möchte, wird das eine enorme Erleichterung bedeuten.» So sieht der Exklusivanspruch auf das Heil der Zeugen Jehovas aus. Sie sind erleichtert, wenn Un- oder Andersgläubige vom Sohn Gottes beseitigt werden.
Auf einen solch despotischen Sohn Gottes hat die Menschheit nicht gewartet. Da stellen sich Fragen: Weshalb soll er die Gegner vernichten? Und: Welches ist nun der «richtige» Jesus: Der barmherzige, der Tote zum Leben erweckt oder der Rächer, der seine Gegner ausschaltet?
Es gibt vermutlich eine einfache Erklärung: Die in biblischen Zeiten lebenden Gläubigen, die drangsaliert und verfolgt worden waren, wünschten sich, dass Jesus ihre Feinde vernichtet. Diese Interpretation dürfte aber den heutigen Gläubigen nicht gefallen.
Sie bedeutete, dass die Bibel nicht von Gott inspiriert, sondern von den Urchristen fabriziert wurde. Somit wäre die Bibel kein heiliges Buch, sondern lediglich ein religionshistorisches. Doch dann käme die gesamte christliche Lehre ins Wanken.
Vernichtung der Religion
Zurück zu den Zeugen Jehovas und ihrer Endzeit-Sehnsucht. Sie schreiben, dass falsche Religionen, die Lügen über Gott verbreiten, abgeschafft werden. «Die falsche Religion wird in der Bibel als Prostituierte dargestellt. Ihre Vernichtung wird viele Menschen schockieren.» So stehe es in der Offenbarung.
Schockierend sind meiner Meinung nach allenfalls solche Aussagen.
Weiter behaupten die Zeugen Jehovas, Gottes Königreich werde der Menschenherrschaft ein Ende bereiten. Und sie fragen: Was passiert mit den Menschen, die Gottes Gesetze ignorieren und sich nicht ändern? Die Antwort: «Die Bibel sagt: Die Bösen dagegen werden von der Erde entfernt (Sprüche 2:22).»
Gläubige müssen in religiösen Fragen wohl arm im Geist sein, dass sie bei solchen Dogmen und Aussagen nicht die Flucht aus dem Königreichsaal, wie die Zeugen ihre Sakralräume nennen, flüchten. Ausserdem erhält man als Beobachter den Eindruck, dass sich die Zeugen Jehovas nach der Apokalypse sehnen. Denn das Endzeitthema ist bei ihnen allgegenwärtig.
Anerkannte Glaubensgemeinschaft
Gegründet wurde die Sekte Ende des 19. Jahrhunderts in den USA mit dem Anspruch, die Gläubigen auf die Endzeit vorzubereiten. Die Führungsgremien nannten mehrfach konkrete Daten für die apokalyptischen Eruptionen. Alle verstrichen ergebnislos.
Für die Gläubigen eine Katastrophe: Sie bereiteten sich auf die endzeitlichen Horrorszenarien vor, doch die Erde drehte sich weiter wie eh und je. Geschadet hat es der Glaubensgemeinschaft aber nicht. Sie ist weltweit verbreitet und hat 8,8 Millionen Mitglieder. Ausserdem geniesst sie weiterhin ein gewisses Ansehen.
So erlangten sie in den letzten Jahren in den deutschen Bundesländern den Status einer Religionsgemeinschaft. In Österreich bekam sie 2009 die gesetzliche Anerkennung. Die Schweiz kennt keine offizielle Anerkennung, doch bei uns geniessen Glaubensgemeinschaften Steuerfreiheit.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.
Du kannst Hugo Stamm auf Facebook folgen und seinen Podcast findest du auf YouTube.