Wie aus Tito Ries’ Schuldenhaufen ein Schuldenberg wurde – und wir alle mitzahlen
Tito Ries war 33 Jahre alt, als seine Lebenspläne zerbrachen. Der gelernte Sanitärmonteur hatte sich hochgearbeitet, eine Temporärfirma aufgebaut, dutzende Handwerker angestellt. Die Auftragsbücher waren voll, die Zukunft gesichert.
Doch im Frühling 1996 meldeten acht seiner grössten Kunden Konkurs. Bonitätsprüfungen, die er gemacht hatte, wiesen sich als veraltet aus. Am selben Tag, als sein Grossvater – seine wichtigste Bezugsperson – starb, wusste er: «Mit meiner Firma ist es vorbei.»
Seine Mitarbeiter habe er noch ausbezahlen können, doch auf den Sozialversicherungsbeiträgen, für die er als Geschäftsführer persönlich haftete, blieb er sitzen. Plötzlich hatte er eine Viertelmillion Franken Schulden. Ries stand vor dem Nichts. Die Betreibungen liessen ihm keine Luft. Dreimal versuchte er, neu anzufangen: auf dem Bau, als Generalunternehmer, später als Versicherungsmakler. Doch was er auch tat, der Schuldenberg blieb. «Ich konnte teilweise mit Zwischenverdiensten meine Familie ernähren, aber nicht die Schulden abbauen.»
Dann zerbrach auch seine Ehe. Weil er keinen Job mehr hatte und aufs Sozialamt musste, verweigerte seine Frau ihm den Kontakt zu den Kindern. «Das hat mich gebrochen. Ich hatte keine Motivation und Perspektive mehr, aus den Schulden herauszukommen.» Ries fühlte sich einsam und fiel in eine Depression.
Absturz in Sucht und Knast
Mit knapp 40 griff er deshalb zum Alkohol. «Ein Bier, dann noch eins, und plötzlich bist du Alkoholiker.» Die Abwärtsspirale war gnadenlos: Sozialhilfe, Wohnungskündigung, Obdachlosigkeit. Notschlafstellen, Strasse, Beizen. «Du bist nur noch in Bewegung. Du schläfst irgendwo ein und wachst im eigenen Erbrochenen auf, ohne zu wissen, wie du da hingekommen bist.»
Das Stigma erledigte den Rest. Gepfändete kriegen keinen Job, keine Wohnung. «Selbst wenn du arbeiten willst, bekommst du keine Chance.» Ries rutschte tiefer, landete schliesslich im Gefängnis. Nicht wegen grosser Delikte, sondern weil er im Strudel aus Armut, Alkohol und Perspektivlosigkeit scheiterte. Zum Teil war es auch seine Rettung. Denn: «Viele meiner Kollegen von damals sind heute tot.»
Mit über 50 zog er die Reissleine. Er gab sich eine Tagesstruktur: Sport, drei Mahlzeiten am Tag, nüchterne Phasen. Eine neue Partnerin, die selbst von einer Sucht loskam, half ihm. «Da wusste ich: Wenn sie es schafft, kann ich es auch.» Er entschied, endgültig mit dem Alkohol zu brechen.
Noch heute lebt Ries vom Sozialamt, er verdient aber etwas dazu als Stadtführer beim Strassenmagazin «Surprise». Auf seinen Touren zeigt er Besuchern die Orte seines Absturzes und stellt Institutionen vor, dank denen er diese schwierige Zeit überlebt hat. Und er erzählt, warum Schulden nicht nur ihn zerstörten, sondern auch die Gesellschaft teuer zu stehen kamen.
«Aus 250’000 Franken Schulden wurden 2 Millionen Folgekosten: Sozialhilfe, Gesundheit, Gefängnis, Integrationsmassnahmen. Am Ende hat niemand profitiert – nicht ich, nicht die Gläubiger, nicht die Steuerzahler.»
Genau für solche Fälle will der Bundesrat ein neues Verfahren schaffen. Mit der Restschuldbefreiung sollen Menschen nach drei Jahren am Existenzminimum ihre Restschulden loswerden können. Eine zweite Chance, die es in diversen europäischen Ländern längst gibt. Am 25. September kommt die Vorlage in den Nationalrat.
Doch die Reform ist umstritten.
Angst vor Missbrauch
Markus Hess, Geschäftsführer des Verbandes Konsumfinanzierung (KFS), hält von der geplanten Restschuldbefreiung wenig. Die Schweiz, sagt er, verfüge bereits über ein «ausgewogenes Schuldbetreibungs- und Konkursrecht». Einen Nachholbedarf gegenüber dem Ausland sieht er nicht.
Die Vorlage treffe aus seiner Sicht das falsche Zielpublikum. Sie richte sich zwar gemäss der Botschaft des Bundesrates an «hoffnungslos Verschuldete», verlange aber zugleich, dass während des Verfahrens ein Budget eingehalten und keine neuen Schulden gemacht werden. «Genau diese Menschen können das kaum erfüllen», so Hess. Wer wirklich dauerhaft zahlungsunfähig sei, brauche Hilfe – aber in der Sozialhilfe. Dort müsse man die Mechanismen verbessern, statt ein neues, kompliziertes Verfahren im SchKG (Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs) zu verankern.
Hess kritisiert zudem das «unausgewogene Verhältnis von Schuldner- und Gläubigerinteressen». Der Staat profitiere, während Drittgläubiger wie Gewerbetreibende, Banken und Kreditinstitute leer ausgingen. Ob es am Ende wirklich mehr Steuereinnahmen gebe, bezweifelt Hess. «Es könnte auch höchstens eine Null oder gar ein Minus geben.»
Als Alternative verweist er auf bestehende Instrumente wie das Nachlassverfahren, bei dem Schuldner und Gläubiger einen Teilverzicht aushandeln. Dieses Modell biete den besseren Interessensausgleich.
Ein weiteres Gegenargument für Hess ist die Missbrauchsgefahr. Er befürchtet, dass Schuldner das Verfahren mehrmals im Leben nutzen könnten, um sich von ihren Verpflichtungen zu befreien. Zwar räumt er ein, dass es dafür keine Belege gibt, doch für ihn gilt der Grundsatz: Verträge sind einzuhalten. Eine einmalige zweite Chance könne man diskutieren, sagt Hess, «aber sicher keine dritte oder vierte».
Den Vorwurf, Banken würden von lebenslangen Schulden und Pfändungen profitieren, weist er zurück. «Wir profitieren nicht, wir müssen auch heute schon abschreiben», sagt er. Die geplante Restschuldbefreiung wäre für ihn vor allem ein kostspieliges Verfahren, das Kredite verteuere.
Eine Perspektive geben
Für Pascal Pfister, Geschäftsleiter von Schuldenberatung Schweiz, ist die Argumentation des KFS zynisch. «Neun von zehn Überschuldeten haben keine Perspektive. Im Gegensatz zu Nachbarländern oder den USA, wo es die Restschuldbefreiung gibt, bleiben sie in der Schweiz lebenslang blockiert.»
Pfister widerspricht Hess direkt: Die Reform richte sich gerade an «hoffnungslos Verschuldete», die keinen Nachlassvertrag mehr abschliessen könnten. Wer ein enges Budget habe, etwa Sozialhilfebeziehende, werde sich anstrengen müssen, um die Bedingungen einzuhalten. Doch das Ziel sei, dass Menschen gar nicht erst in die Sozialhilfe abrutschen.
Auch beim Thema Gläubigerinteressen sieht Pfister Vorteile für die Gesellschaft. Zwar gebe es für einzelne Gläubiger Buchungsverluste, doch diese seien im Kreditwesen durch die Höchstzinssätze längst eingepreist und im Verhältnis zum Milliardenmarkt überschaubar. «Kaum eine andere Anlage bietet eine solche Rendite wie Konsumkredite», sagt er.
Die Befürchtung, das Verfahren werde missbraucht, hält er für überzogen. «Drei Jahre Existenzminimum macht niemand freiwillig, nur um später wieder Schulden zu machen», betont er. Zumal die Restschuldbefreiung ohnehin nur einmal im Leben möglich sein soll – höchstens ein zweites Mal in Ausnahmefällen. Doch darüber entscheide der Nationalrat.
Wichtiger sei der gesellschaftliche Effekt: Heute seien 60 Prozent der Sozialhilfebeziehenden verschuldet. Mit einer Restschuldbefreiung könnten viele von ihnen aus dieser Spirale herauskommen und noch mehr gar nicht in diese Situation geraten. «Ich bekomme Mails von hochverschuldeten Menschen, die seit 15 Jahren zwei Jobs haben und trotzdem nicht vom Fleck kommen», sagt Pfister. «Diese Leute wollen es schaffen und wir sollten ihnen eine echte Chance geben.»
Für Tito Ries kommt die Reform, wenn sie denn umgesetzt wird, zu spät. Er weiss, wie es ist, jahrzehntelang blockiert zu sein, ohne Perspektive. «Eine Restschuldbefreiung hätte mir eine zweite Chance gegeben. Stattdessen haben mich die Schulden jahrzehntelang gefangen gehalten, ohne Ausweg.»