Die wenigen Wochen, in welchen der Kommunikationschef der UNICEF in Afghanistan, Daniel Timme, nun in Kabul arbeitet, waren beispiellos streng. Er hat in dieser kurzen Zeit bereits zwei grosse humanitäre Katastrophen miterlebt: Am 7. Oktober gab es in Herat im Westen des Landes ein schweres Erdbeben, das von zwei darauffolgenden Beben in seiner Stärke nochmals übertroffen wurde. Im Osten und Süden des Landes strömen seit November Tausende nach Pakistan geflüchtete Afghanen zurück nach Afghanistan, weil die Regierung sie ausweist. All das geschieht, während die Bevölkerung unter der Regierung der Taliban leidet und das Land sich in einer Wirtschaftskrise befindet.
Daniel Timme sitzt während des Videocalls mit watson im UNICEF-Büro in einem abgeriegelten Sicherheitsbereich. Sich frei zu bewegen, sei schwierig, erzählt er. Als bei den Erdbeben in Herat im Oktober 2023 innert zehn Tagen fast alles dem Erdboden gleichgemacht wurde, traf es auch das dortige Büro des Hilfswerks. Obwohl seinen Mitarbeitern nichts passiert sei, wie Timme versichert, haben die Erdbeben laut Sprechern der Taliban über 2000 Menschenleben gefordert.
Der Zeitpunkt des Erbebens ist besonders ungünstig, denn der Winter naht, und diese gestalten sich in Afghanistan mit Temperaturen von bis zu minus 25 Grad eisig kalt. Deshalb unterstützt UNICEF die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten dabei, ihr Zuhause winterfest zu machen. «Weil wir davon ausgehen, dass die Menschen dort selbst am besten wissen, was sie dafür brauchen, geben wir ihnen bares Geld», sagt Timme. Damit würden Lehmhäuser mit provisorischem Dach gebaut, warme Kleidung und Brennstoff zum Heizen gekauft.
«Sauberes Wasser ist nach solchen Katastrophen immer besonders wichtig, weil dreckiges Wasser die Ausbreitungen von Krankheiten begünstigt», ergänzt Timme. Deshalb liefere man täglich Wasser mit einem Tankwagen in das Gebiet und verteile Wasserpurifikationsmittel, die verschmutztes Wasser mittels Chemie trinkbar machen. Weil die Erdbeben auch sämtliche Infrastruktur zusammenbrechen liessen, hat man nun provisorische Gesundheitszentren aufgebaut und Kinder werden in provisorischen Schulen unterrichtet.
Währenddessen spielt sich im Osten und Süden des Landes eine andere, menschengemachte Katastrophe ab: Seit Anfang November müssen Afghanen, die ohne Aufenthaltsbewilligung im Nachbarland Pakistan leben, zurück in ihr Herkunftsland. Davon betroffen sind potenziell 1,7 Millionen Menschen, auch solche, die seit Jahren oder sogar noch nie in Afghanistan gelebt haben. Als Grund für die Ausweisung nennt die pakistanische Regierung vermehrte Terrorattacken, die das Land jüngst in Angst und Schrecken versetzten. Ausgeübt werden diese von Islamisten der pakistanischen Taliban. Die pakistanischen Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass afghanische Flüchtlinge in die Planung dieser Anschläge verwickelt waren.
Darum kommen an den Grenzen zu Pakistan im Osten und Süden des Landes nun täglich Tausende von Flüchtenden an. Die Menschen warten tagelang darauf, diese passieren zu dürfen. 40 Kilometer lang stehen afghanische Familien Schlange – im bergigen Grenzgebiet, welches wegen der vielen ungesicherten Landminen als sehr unsicher gilt. Die Menschen besitzen oft nur das, was sie am Körper tragen, da sie teilweise über Nacht aufgefordert wurden, Pakistan zu verlassen. Es fehlt ihnen an warmer Kleidung, Nahrung und Wasser. «Gerade die Kinder befinden sich dabei in einer sehr verletzlichen Situation», meint Timme.
Umso wichtiger ist es, dass bei Camps in Nähe der Grenzübergänge – wie beispielsweise Torkham – Hilfswerke wie UNICEF bereitstehen, um Hilfe anzubieten. Wenn Kinder – oft auch ohne Begleitung eines Erwachsenen – ankommen, werden sie zuerst von den Behörden registriert. Unicef sorgt dafür, dass die Gesundheitsversorgung vor Ort sichergestellt ist und sanitäre Anlagen zur Verfügung stehen. Die Kinder kommen in sogenannten «kinderfreundlichen Zentren» unter, wo sie von geschulten Sozialarbeitern betreut werden.
Dies entlaste die Psyche der traumatisierten Kinder, erklärt Timme: «Dort dürfen sie einfach mal Kind sein und für einen kurzen Moment vergessen, was um sie herum gerade passiert.» Dies böte auch Gelegenheit zu erkennen, ob die Kinder Misshandlungen ausgesetzt waren oder gesundheitliche Probleme haben. «Dann können wir sie weiter verweisen an Kollegen, die sie medizinisch oder psychologisch umsorgen oder sicherstellen, dass die Kinder keiner Gewalt ausgesetzt sind.»
Vom Camp aus ziehen die Menschenströme dann weiter in ihre Heimat, zu ihren Verwandten. Für die Menschen, die dort auf sie warten, ist ihre Ankunft bittersüss, denn jetzt müssen mit den sowieso schon viel zu knappen Mitteln noch mehr Menschen ernährt werden. 3,2 Millionen Menschen haben in Afghanistan zu wenig Nahrung und sind von lebensbedrohlicher Mangelernährung betroffen. 900'000 davon befinden sich aufgrund akuten Hungers in Lebensgefahr.
Mit potenziell 1,7 Millionen zusätzlichen mittellosen Menschen, die ankommen, wird sich die Lage weiter verschärfen. Etwa die Hälfte der Kinder im Land kann sich aufgrund chronischer Mangelernährung weder geistig noch körperlich richtig entwickeln – gegessen werden hauptsächlich die Grundnahrungsmittel Brot, Reis und Linsen. Dass Afghanistan besonders stark vom Klimawandel betroffen ist, zeigt sich an den Dürren und Fluten, die das Land heimsuchen und die Nahrungsmittelknappheit durch ausfallende Ernten weiter verschärfen. Auch in den Kommunen, die übers Land verteilt sind, ist UNICEF vertreten. Sie verteilen hier beispielsweise Nahrungsergänzungsmittel, um der Mangelernährung vorzubeugen und schauen, dass sich die Neuankömmlinge möglichst gut integrieren können.
«Hinzu kommt, dass sich seit dem Regimewechsel die Situation für Frauen und Mädchen extrem verschlechtert hat. Die Mädchen dürfen nur noch bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen, danach nicht mehr», erzählt Timme im Videocall. Das sei natürlich etwas, was UNICEF verurteile – sie fordern die Regierung deshalb auf, ihre Politik zu überdenken. Nicht nur, weil das Recht auf Bildung allen Menschen gleichermassen zustehen solle, sondern auch, weil es für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes nicht förderlich sei, wenn die Hälfte der Bevölkerung vom Arbeitsmarkt und dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werde.
Denn auch erwachsene Frauen dürfen das Haus seit dem Regimewechsel nur noch in Begleitung eines Mannes – dem Vater, dem Sohn, dem Ehemann – verlassen. Die Taliban haben inzwischen eine Ausnahmeordnung in Kraft gesetzt, die es Frauen erlaubt, zumindest im Bildungs- und Gesundheitsbereich wieder zu arbeiten. Weil die Autoritäten jedoch dezentral organisiert seien, unterscheide sich die Umsetzung des Gesetzes von Region zu Region. «Wenn die Mitarbeiterinnen von kooperierenden Hilfsorganisationen sich nicht ohne Mann, der sie begleitet, fortbewegen können, bedeutet das für uns einen extremen Mehraufwand.» Für eine Geschäftsreise müsse dann immer noch zusätzlich ein Mann aufgeboten werden, was natürlich doppelt so viel koste.
Auch wenn UNICEF den Taliban in vielen Angelegenheiten fundamental widerspreche, finde man in der Praxis dann meistens doch eine Lösung, wie die Hilfswerke ihre Programme umsetzen können. «Weil sie verstehen, dass wir hier im Land wichtige Arbeit leisten, tolerieren sie uns.» In Ländern zu arbeiten, in welchen die Regierung nicht international anerkannt werde, sei immer eine Gratwanderung.
Weil die internationalen Gelder seit dem Regimewechsel eingefroren sind, ist UNICEF mehr denn je auf seine Gönner angewiesen. «Egal, welche politische Macht an der Spitze eines Landes steht: die Kinder können nichts dafür», betont Timme. Das Wohl der Kinder stehe über allem, egal wie kompliziert die Zusammenarbeit mit den Behörden sei. «Wir sind seit 70 Jahren vertreten hier und denken auch nicht daran, wegzugehen», bekräftigt Timme mit einem zuversichtlichen Lächeln.
Zudem ist Afghanistan kein einheitliches Volk. Paschtunen und Tadschiken dominieren. Hazara werden diskriminiert, Usbeken sind ebenfalls eine Minderheit. Sunniten versus Shiiten.
Ich reiste in den frühen 1970er Jahren in dieses faszinierende und zerklüftete Bergland.
Was diese Menschen durchleben, ist unvorstellbar.
Wann hat die Bevölkerung in Frieden leben können?
Das Leben ist bereits hart durch die Kälte, die Wüsten, die Berge, Geröll, Entwaldung, Dürren, Erdbeben. Despotie, Besatzung, Islamisten, Clanzwistigkeiten. 50 Millionen Menschen ohne Perspektive.
Horror.