Man kann es drehen und wenden wie man es will: Auf dem Papier hat Bernie Sanders keine Chance mehr, zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten gewählt zu werden. Es ist dem 78-jährigen Senator aus Vermont auch bei den Vorwahlen am Dienstag nicht gelungen, eine mehrheitsfähige Koalition zu zimmern. Auch deswegen landete er im strategisch wichtigen Bundesstaat Michigan, in dem er vor vier Jahren in den Vorwahlen eine Mehrheit der Stimmen gewann, nur bei etwas mehr als 36 Prozent. Sein Kontrahent Joe Biden hingegen, der seit seiner politischen Wiederauferstehung in South Carolina auf Wolke sieben schwebt, erzielte fast 53 Prozent.
Dank einer rekordhohen Wahlbeteiligung gewann der 77-jährige ehemalige Vizepräsident in den progressiven Grossstädten, den wohlhabenden Agglomerationen und selbst in strukturkonservativen ländlichen Gebieten. Treffend formulierte es der Journalist Tim Alberta, einer der klügsten Beobachter des amerikanischen Politbetriebs. Biden sei kein spektakulärer Kandidat. Aber das sei gar nicht nötig: Ganz offensichtlich sei eine ausreichend grosse Zahl von Wählerinnen und Wählern bereit, über seine Fehler wegzusehen.
Der einzige Wehrmutstropfen für Biden: Erneut sprach sich eine klare Mehrheit der jungen Stimmberechtigten für Sanders aus, obwohl der linke Senator mit seinen 78 Jahren der älteste Kandidat im Rennen um das Weisse Haus ist. Es ist deshalb zentral für Biden, im anstehenden Duell gegen Trump – über dessen Ausgang sich auch angesichts der Corona-Virus-Krise bloss spekulieren lässt – auf Sanders' Unterstützung (und die Stimmen seiner Anhänger) zählen zu dürfen.Dies erfordert ein wenig Fingerspitzengefühl, und zwar von beiden Altpolitikern.
Bidens Aufgabe: Er muss den Anhängern seines Kontrahenten glaubwürdig versichern, dass er zwar kein Anhänger der «politischen Revolution» ist, die Sanders buchstäblich seit Jahren ankündigt, dass er aber Verständnis dafür hat, dass gerade junge Amerikanerinnen und Amerikaner frustriert sind über den Stillstand im Washingtoner Politbetrieb.
Biden, der 1972 erstmals in den Senat gewählt worden war, ist für diese Rolle eine Fehlbesetzung. Auch wenn er von sich behauptet, nie den Kontakt zu seinen Wurzeln in der amerikanischen Mittelschicht verloren zu haben. Und auch wenn er bekannt ist für seine volkstümlichen Auftritte. Biden ist zuallererst ein Karrierepolitiker. Also muss er recht schnell eine Vizepräsidentschaftskandidatin ernennen, die als Mittelsperson zum Sanders-Lager dienen kann, ohne dabei die Stützen der Biden-Koalition vor den Kopf zu stossen.
Bereits kursieren die Namen möglicher Anwärterinnen. Und ja, aufgrund der Beschaffenheit der modernen Demokratischen Partei muss dieser Posten zwingend von einer Frau übernommen werden. Immer wieder genannt wird in diesem Zusammenhang Stacey Abrams, eine 46 Jahre alte Afroamerikanerin aus Georgia, die im Herbst 2018 die Wahl zur ersten Gouverneurin im Südstaat nur ganz knapp verpasst hatte. Sie vertrat in ihrem Wahlkampf ein prononciert linkes Programm.
Nicht in Frage kommt hingegen Alexandria Ocasio-Cortez. Die mediengewandte Abgeordnete aus New York, die sich am linken Rand der Demokratischen Partei verortet, gilt gerade unter jungen Amerikanern als Star. Aber die 30-Jährige ist schlicht zu jung für den Posten. Die amerikanische Verfassung schreibt vor, dass die Kandidaten für das Präsidium des Landes und den Stellvertreter ihren 35. Geburtstag gefeiert haben müssen.
Und die Aufgabe von Bernie Sanders in diesem höchst delikaten Annäherungsprozess? Er muss einen Weg finden, seinen Anhängern zu versichern, dass er zwar nicht begeistert ist über den designierten demokratischen Präsidentschaftskandidaten Biden, ihn aber dennoch unterstützt – auch wenn ihm seine gesundheits- und wirtschaftspolitischen Vorschläge zu wenig weit gehen. Das wird nicht einfach sein. Der selbsternannte «Demokratische Sozialist» ist nicht dafür bekannt, auf seine politischen Gegner in der Republikanischen und Demokratischen Partei zuzugehen. Aber letztlich weiss Sanders: Die Wahl am 3. November ist ein Nullsummenspiel. Entweder gewinnt Biden – oder dann gewinnt Trump.
Fun fact: Als die Verfassung geschrieben wurde (1787), war die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA 38.