Emmanuel Macron ist ein Zockertyp. Das hat sich immer wieder ausgezahlt. Bei der Präsidentschaftswahl 2017 profitierte der junge und relativ unerfahrene Politiker davon, dass sich seine Gegnerinnen und Gegner selbst zerlegten. So auch die Rechtspopulistin Marine Le Pen mit einem aggressiven Auftritt im entscheidenden Fernsehduell vor der Stichwahl.
Nun riskiert der Präsident seinen bislang höchsten Einsatz. Am Sonntagabend, nur eine Stunde nach dem Vorliegen der ersten Hochrechnungen zur Europawahl, verkündete Macron in einer kurzen Fernsehansprache die Auflösung der Nationalversammlung. Am 30. Juni finden Neuwahlen statt. Für den Wahlkampf bleiben somit nur drei Wochen.
Auslöser war der klare Sieg von Le Pens Rassemblement National (RN). Zusammen mit der noch extremeren Reconquête kamen die Rechtsaussen-Parteien bei der Europawahl auf rund 37 Prozent der Stimmen. Emmanuel Macrons Ankündigung sorgte in Frankreich für Erstauen und im Ausland, vor allem beim Nachbarn Deutschland, für Entsetzen.
«Macron verliert die Nerven», titelte etwa die «Süddeutsche Zeitung». Doch offenbar war es keine Kurzschluss-Handlung. Der Entscheid, das Parlament aufzulösen, sei «schon lange im Staatschef gereift», schrieb «Le Point». Drei Jahre vor dem Ende seiner Amtszeit strebt Macron demnach eine Art Befreiungsschlag an.
Das ist nachvollziehbar. Sein liberales Bündnis Ensemble hat seit den letzten Wahlen vor zwei Jahren keine Mehrheit in der Nationalversammlung. Mehrfach musste die Regierung Vorlagen mit Hilfe des umstrittenen Verfassungsartikels 49.3 am Parlament vorbei verabschieden, so auch die heftig umstrittene und unpopuläre Rentenreform.
Was aber könnte Macron mit Neuwahlen gewinnen? Zwei Szenarien sind möglich.
EXCLUSIF @Challenges - Première projection des élections législatives post-dissolution :
— Rémi Clément (@remiclement_) June 10, 2024
- ⚫️ RN : 235 à 265 sièges
- 🟡 Ensemble : 125 à 155 sièges
- 🔴 NUPES : 115 à 145 sièges
- 🔵 LR : 40 à 55 sièges
- ⚪️ Autres : 5 à 20 sièges pic.twitter.com/MYVjLjAPPI
Die Europawahl ist oft ein Denkzettel, um den Regierenden eins auszuwischen. Macron könnte darauf spekulieren, dass sich bei der Parlamentswahl der «republikanische» Reflex durchsetzt. Die Mehrheit der Franzosen hat nicht rechtsaussen gewählt, und die Parlamentswahl wird im Majorzsystem durchgeführt. Im zweiten Wahlgang am 7. Juli könnte sich dies auszahlen.
Eine erste Prognose des Instituts Harris Interactive deutet darauf hin, dass das Rassemblement National massiv zulegen, die absolute Mehrheit der 577 Sitze in der Nationalversammlung aber verpassen würde. Es müsste allenfalls eine Allianz mit der Partei Les Républicains eingehen. Deren Chef Éric Ciotti erklärte sich am Dienstag auf dem Sender TF1 dazu bereit.
Die Bildung einer stabilen Mehrheit könnte ohnehin schwierig werden, auch weil die Linke zerstritten ist. Am Montag einigte sie sich im Grundsatz auf eine erneute Zusammenarbeit, doch die Differenzen zwischen dem Linksaussen Jean-Luc Mélenchon und dem neuen sozialistischen Hoffnungsträger Raphaël Glucksmann sind beträchtlich.
Es droht eine noch grössere Instabilität als bisher, doch Emmanuel Macron scheint auf ein anderes Szenario zu setzen. Er wolle Le Pen und die Rechtsnationalen «entzaubern», soll er EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen laut der «Bild»-Zeitung anvertraut haben. Denn einmal an der Macht müsse das Rassemblement National «auch liefern».
Das könnte tatsächlich schwierig werden. Zwar hat sich Marine Le Pen bemüht, ihre Partei zu «entdiabolisieren» und damit mehrheitsfähig zu machen. Mit dem erst 28-jährigen Jordan Bardella hat sie einen «vorzeigbaren» Mitstreiter aufgebaut. Aber nicht alle kaufen der Tochter des Rassisten und Holocaust-Leugners Jean-Marie Le Pen den Wandel ab.
Neben einer harten Einwanderungspolitik will Le Pen die Kaufkraft der Franzosen stärken. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik aber ist sie eine «klassische» Rechtspopulistin. Sie lehnt den neoliberalen «Globalismus» ab und setzt auf Protektionismus, weshalb ihr die Wirtschaft misstraut, auch weil Emmanuel Macron viele ausländische Investitionen «anlocken» konnte.
Frankreich ist zudem hoch verschuldet. Das Budgetdefizit stieg zuletzt auf 5,5 Prozent und die Staatsschulden auf über 110 Prozent. Für soziale Wohltaten, die Marine Le Pen wohl gerne ausschütten würde, besteht wenig Spielraum. Das könnte viele Wählerinnen und Wähler enttäuschen, die heute das Gefühl haben, sie wollten dem RN eine Chance geben.
Dies könnte die Rechtspopulisten «entzaubern» und einen Sieg von Le Pen bei der Präsidentschaftswahl 2027 verhindern. Als Präsident verfügt Macron zudem über eine «Richtlinienkompetenz» in der Aussen- und Verteidigungspolitik sowie über ein Vetorecht. Er könnte verhindern, dass eine Regierung Le Pen – oder Bardella – die Ukraine-Hilfe streicht.
Eine Kohabitation mit seiner Erzfeindin aber wäre für Emmanuel Macron ein äusserst mühsames Unterfangen. Um den erwünschten Effekt zu erzielen, müsste er sich wohl stark zurücknehmen, was dem hyperaktiven Präsidenten schwerfallen dürfte. Sein riskantes Spiel könnte ins Auge gehen – mit unabsehbaren Folgen für Frankreich und Europa.