International
Analyse

Was Emmanuel Macron mit der Neuwahl in Frankreich bezweckt

French President Emmanuel Macron, right, meets French far-right Rassemblement National (RN) leader and Member of Parliament Marine Le Pen at the Elysee Palace in Paris, France, Tuesday, June 21, 2022. ...
Wird Emmanuel Macron bald zusammen mit Marine Le Pen regieren?Bild: keystone
Analyse

Macrons riskantes Spiel: Er will Marine Le Pen «entzaubern»

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron setzt mit der vorgezogenen Parlamentswahl auf volles Risiko: Er will die Rechtspopulisten ausmanövrieren – auf die eine oder andere Art.
11.06.2024, 17:32
Mehr «International»

Emmanuel Macron ist ein Zockertyp. Das hat sich immer wieder ausgezahlt. Bei der Präsidentschaftswahl 2017 profitierte der junge und relativ unerfahrene Politiker davon, dass sich seine Gegnerinnen und Gegner selbst zerlegten. So auch die Rechtspopulistin Marine Le Pen mit einem aggressiven Auftritt im entscheidenden Fernsehduell vor der Stichwahl.

Nun riskiert der Präsident seinen bislang höchsten Einsatz. Am Sonntagabend, nur eine Stunde nach dem Vorliegen der ersten Hochrechnungen zur Europawahl, verkündete Macron in einer kurzen Fernsehansprache die Auflösung der Nationalversammlung. Am 30. Juni finden Neuwahlen statt. Für den Wahlkampf bleiben somit nur drei Wochen.

epa11400832 Supporters of presidential party RE Renaissance watch French President Emmanuel Macron?s speech displayed on the screen at the electoral party after the announcement of the results in Pari ...
Am Sonntagabend kündigte Emmanuel Macron die Auflösung des Parlaments an.Bild: keystone

Auslöser war der klare Sieg von Le Pens Rassemblement National (RN). Zusammen mit der noch extremeren Reconquête kamen die Rechtsaussen-Parteien bei der Europawahl auf rund 37 Prozent der Stimmen. Emmanuel Macrons Ankündigung sorgte in Frankreich für Erstauen und im Ausland, vor allem beim Nachbarn Deutschland, für Entsetzen.

«Schon lange gereift»

«Macron verliert die Nerven», titelte etwa die «Süddeutsche Zeitung». Doch offenbar war es keine Kurzschluss-Handlung. Der Entscheid, das Parlament aufzulösen, sei «schon lange im Staatschef gereift», schrieb «Le Point». Drei Jahre vor dem Ende seiner Amtszeit strebt Macron demnach eine Art Befreiungsschlag an.

Das ist nachvollziehbar. Sein liberales Bündnis Ensemble hat seit den letzten Wahlen vor zwei Jahren keine Mehrheit in der Nationalversammlung. Mehrfach musste die Regierung Vorlagen mit Hilfe des umstrittenen Verfassungsartikels 49.3 am Parlament vorbei verabschieden, so auch die heftig umstrittene und unpopuläre Rentenreform.

Was aber könnte Macron mit Neuwahlen gewinnen? Zwei Szenarien sind möglich.

Ausbremsen

Die Europawahl ist oft ein Denkzettel, um den Regierenden eins auszuwischen. Macron könnte darauf spekulieren, dass sich bei der Parlamentswahl der «republikanische» Reflex durchsetzt. Die Mehrheit der Franzosen hat nicht rechtsaussen gewählt, und die Parlamentswahl wird im Majorzsystem durchgeführt. Im zweiten Wahlgang am 7. Juli könnte sich dies auszahlen.

Eine erste Prognose des Instituts Harris Interactive deutet darauf hin, dass das Rassemblement National massiv zulegen, die absolute Mehrheit der 577 Sitze in der Nationalversammlung aber verpassen würde. Es müsste allenfalls eine Allianz mit der Partei Les Républicains eingehen. Deren Chef Éric Ciotti erklärte sich am Dienstag auf dem Sender TF1 dazu bereit.

Die Bildung einer stabilen Mehrheit könnte ohnehin schwierig werden, auch weil die Linke zerstritten ist. Am Montag einigte sie sich im Grundsatz auf eine erneute Zusammenarbeit, doch die Differenzen zwischen dem Linksaussen Jean-Luc Mélenchon und dem neuen sozialistischen Hoffnungsträger Raphaël Glucksmann sind beträchtlich.

Entzaubern

Es droht eine noch grössere Instabilität als bisher, doch Emmanuel Macron scheint auf ein anderes Szenario zu setzen. Er wolle Le Pen und die Rechtsnationalen «entzaubern», soll er EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen laut der «Bild»-Zeitung anvertraut haben. Denn einmal an der Macht müsse das Rassemblement National «auch liefern».

Das könnte tatsächlich schwierig werden. Zwar hat sich Marine Le Pen bemüht, ihre Partei zu «entdiabolisieren» und damit mehrheitsfähig zu machen. Mit dem erst 28-jährigen Jordan Bardella hat sie einen «vorzeigbaren» Mitstreiter aufgebaut. Aber nicht alle kaufen der Tochter des Rassisten und Holocaust-Leugners Jean-Marie Le Pen den Wandel ab.

FILE - Leader of the French far-right National Rally Marine Le Pen, left and lead candidate of the party for the upcoming European election Jordan Bardella during a political meeting on June 2, 2024 i ...
Der 28-jährige Jordan Bardella ist das neue Vorzeige-Gesicht von Le Pens Partei.Bild: keystone

Neben einer harten Einwanderungspolitik will Le Pen die Kaufkraft der Franzosen stärken. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik aber ist sie eine «klassische» Rechtspopulistin. Sie lehnt den neoliberalen «Globalismus» ab und setzt auf Protektionismus, weshalb ihr die Wirtschaft misstraut, auch weil Emmanuel Macron viele ausländische Investitionen «anlocken» konnte.

Frankreich ist zudem hoch verschuldet. Das Budgetdefizit stieg zuletzt auf 5,5 Prozent und die Staatsschulden auf über 110 Prozent. Für soziale Wohltaten, die Marine Le Pen wohl gerne ausschütten würde, besteht wenig Spielraum. Das könnte viele Wählerinnen und Wähler enttäuschen, die heute das Gefühl haben, sie wollten dem RN eine Chance geben.

Dies könnte die Rechtspopulisten «entzaubern» und einen Sieg von Le Pen bei der Präsidentschaftswahl 2027 verhindern. Als Präsident verfügt Macron zudem über eine «Richtlinienkompetenz» in der Aussen- und Verteidigungspolitik sowie über ein Vetorecht. Er könnte verhindern, dass eine Regierung Le Pen – oder Bardella – die Ukraine-Hilfe streicht.

Eine Kohabitation mit seiner Erzfeindin aber wäre für Emmanuel Macron ein äusserst mühsames Unterfangen. Um den erwünschten Effekt zu erzielen, müsste er sich wohl stark zurücknehmen, was dem hyperaktiven Präsidenten schwerfallen dürfte. Sein riskantes Spiel könnte ins Auge gehen – mit unabsehbaren Folgen für Frankreich und Europa.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
8 Arten, Frankreich aufzuteilen
1 / 10
8 Arten, Frankreich aufzuteilen
quelle: twitter / twitter
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Le Pen und der Front National: Eine Erfolgsgeschichte
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
84 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Krasse Siech
11.06.2024 18:35registriert Dezember 2023
Macron und die vorherigen Präsidenten, die F in vielen Bereichen in einem miserablen Zustand zurückliessen, müssen sich endlich die Frage stellen, wieso der RN inzwischen fast überall die stärkste Partei ist. Sogar in der Bretagne, wo er noch vor einigen Jahren keine Chance hatte. Unter anderem deshalb, weil die Islamisierung inzwischen auch in der Bretagne angekommen ist, mit grosser zeitlicher Verspätung.
5015
Melden
Zum Kommentar
avatar
Lowend
11.06.2024 19:15registriert Februar 2014
Rechtspopulisten entzaubert man, indem man sie regieren lässt, denn die bringen meist noch viel weniger auf die Reihe, als die „Altparteien“, die sie dauernd kritisieren; motzen ist eben einfacher. 😉
3920
Melden
Zum Kommentar
84
    EU verhängt 460-Millionen-Kartellstrafe gegen Autobauer wie VW und BMW

    Die EU-Kommission hat eine Kartellstrafe in Höhe von rund 460 Millionen Euro gegen zahlreiche Autobauer verhängt. Sie haben sich jahrelang an einem Kartell beteiligt, wie die EU-Kommission mitteilte.

    Zur Story