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Russland-Ukraine: Hinter Putins Lügen steckt eine perfide Taktik

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Hinter Putins Lügen steckt eine perfide Taktik

Russland kündigt an, sich aus Teilen der Ukraine zurückzuziehen – und keiner nimmt es ernst. Kein Wunder: Auch militärisch setzt Putins Regime immer wieder gezielt Desinformation ein. Doch was ist das Ziel? Ein Experte sieht drei unterschiedliche Gründe.
31.03.2022, 07:5031.03.2022, 10:41
Liesa Wölm und Luis Reiss / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Russland kündigt an, sich aus Teilen der Ukraine zurückzuziehen – und keiner nimmt es ernst. Kein Wunder: Auch militärisch setzt Putins Regime immer wieder gezielt Desinformation ein. Doch was ist das Ziel? Ein Experte sieht drei unterschiedliche Gründe. 

Die Nachricht machte weltweit Schlagzeilen: Russland wolle seine militärischen Operationen rund um die ukrainische Hauptstadt Kiew reduzieren, hiess es aus dem Moskauer Verteidigungsministerium am Dienstag. Was theoretisch ein Grund für Hoffnung sein könnte, löste international erst mal nur eins aus: Skepsis.

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Ist die Ankündigung bloss eine weitere Lüge Russlands? Dieser Verdacht steht im Raum. Auch, weil Militärbeobachter zwar Rückschläge für die russischen Streitkräfte rund um Kiew, aber bislang keinen nennenswerten Truppenabzug beobachtet haben. In der Nacht zu Mittwoch gab es Berichte über anhaltende Kämpfe nahe der Hauptstadt.

Das Misstrauen hat Russland in den vergangenen Jahren selbst geschürt. Wer nach militärisch genutzten Falschinformationen aus dem Kreml sucht, findet aktuelle Beispiele im Ukraine-Krieg, doch auch darüber hinaus. Das Muster scheint immer ähnlich zu sein: Russland zeigt sich kompromissbereit – und verschärft dann doch die Konfrontation. 

epa09833831 Russian President Vladimir Putin attends a concert marking the 8th anniversary of Crimea's reunification with Russia at the Luzhniki stadium in Moscow, Russia, 18 March 2022. Russia i ...
Wladmir Putin schürt Misstrauen.Bild: keystone

Beispiel 1: Angeblicher Truppenabzug – dann folgte die Invasion

So auch im Februar, kurz vor Kriegsbeginn: Russland hatte bereits mehr als 150'000 Soldaten entlang der ukrainischen Grenze stationiert, aber stritt ab, in das Land eindringen zu wollen. Am 15. Februar teilte Moskau überraschend mit, nach Manövern Truppen im Süden und Westen des Landes abzuziehen. Andere Übungen, darunter auch im Nachbarland Belarus , sollten aber weiterlaufen. Bei einem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) versicherte Kremlchef Wladimir Putin , Russland wolle keinen neuen Krieg in Europa.  

Der Westen hatte auf die russischen Manöver äusserst besorgt reagiert und Zweifel am Truppenabzug geäussert. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg berichtete vom Gegenteil: «Russland scheint den Militäraufmarsch fortzusetzen.» Der Kreml warf dem Militärbündnis hingegen vor, die Lage nicht richtig zu beurteilen. Ein Video des Verteidigungsministeriums vom Abzug eigener Soldaten von der Halbinsel Krim sollte Bedenken des Westens mildern.

Wenig später zeigte sich, dass die Worte keinerlei Bedeutung hatten: Am 24. Februar marschierten die russischen Truppen in die Ukraine ein und starteten einen Krieg, der nun seit mehr als einem Monat anhält. 

Warum hat Putin also gelogen und den Angriffskrieg gestartet? «Zum einen wollte er den Gegner täuschen», sagt der Russland-Experte Stefan Meister zu t-online. «Zum anderen wollte er die USA, die immer wieder vor einem Krieg warnten, als Lügner darstellen.» Putin habe sich bis zum letzten Moment die Option offengelassen, ob er wirklich angreift. «Das sehen wir ja auch in der schlechten Vorbereitung und Ausführung dieses Krieges», so Meister. Bei dieser Lüge handle es sich ganz klar um einen taktischen Schachzug.

Dr. Stefan Meister ist Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Meister hat Politikwissenschaft und Osteuropäische Geschichte an den Universitäten Jena, Leipzig und Nischnij Novgorod (Russland) studiert. Sein Fokus liegt unter anderem auf russischer Innen-, Aussen- und Sicherheitspolitik, russischer Desinformation und hybrider Kriegsführung.  

Einschätzung zu den russischen Truppen-Übungen kurz vor der Invasion:

Beispiel 2: Humanitäre Korridore – dann folgt die Eskalation

Ein weiteres Beispiel für falsche russische Versprechen sind die sogenannten humanitären Korridore. Sie wurden in der Ukraine eingerichtet, um die Evakuierung von Zivilisten aus umkämpften Städten zu ermöglichen. Das Prinzip: Die Kriegsparteien vereinbaren, die Kämpfe auf einer bestimmten Route für einige Stunden einzustellen. Auch im Syrien-Krieg wurden humanitäre Korridore eingerichtet. 

«Es ist eine typische Taktik Russlands», sagt Experte Meister. «Man schafft humanitäre Korridore, um zu signalisieren, dass man auf die Gegenseite zugeht – und dann beschuldigt man den Gegner, im aktuellen Fall die Ukraine, die Waffenruhe nicht einzuhalten und attackiert die Korridore.» Denn derzeit könne man nicht immer sofort verifizieren, wer für die Angriffe verantwortlich sei und damit die Waffenruhe gebrochen habe.

Das Problem: Zivilisten geraten dann erst recht in die Kämpfe. Zugleich betrachtete Russland in der Ukraine wie in Syrien im Anschluss alle verbliebenen Menschen als gegnerische Kämpfer. Die Korridore dienten somit als Vorwand, um Orte wie die ostukrainische Stadt Mariupol in Schutt und Asche zu legen. In Syrien sollen die Korridore von Russland vor allem taktisch genutzt worden sein – als Pausen, um die eigenen Truppen neu zu organisieren.

Was nützt Putin diese Lüge? «Der Krieg in der Ukraine wird gegen die Zivilbevölkerung geführt, wie auch in Syrien», so Meister. Die Ukraine werde abgeschreckt, verunsichert und der Druck auf das Land erhöht, wenn man systematisch Zivilisten bombardiere.  

Beispiel 3: Die Krim-Annexion

Im Fall der Krim- Annexion trieb Russland die Lügen-Taktik im Februar 2014 auf die Spitze. Russland sei gar nicht beteiligt, hiess es damals offiziell. Ganz im Gegenteil: Eine Annexion der Krim werde «nicht erwogen», behauptete Putin öffentlich. Erst Monate später gab der Kremlchef zu, dass russische Soldaten beteiligt gewesen waren. Sie besetzten wichtige Infrastruktur, das Parlament und Regierungsgebäude – und übernahmen de facto die Kontrolle auf der Halbinsel. 

Putins ursprüngliche Version lautete: Prorussische Separatisten, die ein Referendum zum Anschluss der Region an Russland abhielten, waren eigenständig verantwortlich. Die russische Armee habe lediglich deren Sicherheit garantiert. Obwohl die Lüge in kürzester Zeit widerlegt werden konnte, hielt die Putin-Regierung lange an ihrer Darstellung fest. 

«Bei der Lüge um die Annexion der Krim ging es Putin eindeutig um einen Überraschungseffekt», erklärt Experte Meister. Es habe sich um eine verdeckte Operation gehandelt, dessen Ausgang zunächst ungewiss war und der Gegner sollte im Unklaren gelassen werden, wer angreift und was Russland vorhat. «Später hat Putin den Einsatz russischer Soldaten zugegeben, weil bereits Sanktionen verhängt worden waren – und weil er sehr stolz darauf war, dass der Einsatz so gut gelaufen ist. Das kam dann in der eigenen Bevölkerung auch sehr gut an.»

Auch im Ukraine-Krieg leugnete Russlands Aussenminister Sergej Lawrow regelmässig die Rolle seines Landes als Aggressor. Das gipfelte nach Friedensverhandlungen in Istanbul in dem Satz: «Wir haben die Ukraine nicht angegriffen.» 

«So geht der Westen vielleicht doch wieder Kompromisse ein»

Die drei Beispiele belegen: Putins Taktik besteht darin, das Gegenteil von dem zu behaupten, was er letztlich tut. Das führt vor allem zu grossem Misstrauen seitens des Westens, wie das aktuelle Beispiel des angeblichen Truppenrückzugs bei Kiew zeigt. Dabei handelt es sich Experte Meister zufolge ebenfalls um ein taktisches Manöver. «Die russischen Truppen sind jetzt erst einmal erschöpft, die bisherige Strategie gescheitert, die russische Armee wird sich neu gruppieren.» Durch die aktuellen Behauptungen verschaffe sich Russland Zeit.

«Und dann werden sie wieder neu angreifen, während wir noch darüber diskutieren, ob es nun einen Waffenstillstand gibt oder nicht», sagt Meister. «Der Kreml weiss, dass die Lügen schnell durch Satellitenbilder entlarvt werden können, aber das nimmt er in Kauf.»

Es gehe dabei lediglich um Ablenkung. «Deshalb gibt es überhaupt kein Vertrauen in die russische Führung – aber auch Russland vertraut dem Westen nicht», so der Experte. Die Desinformationskampagne des Kremls habe ein wichtiges Ziel: «Sie verunsichert – und zermürbt. So geht der Westen vielleicht doch wieder Kompromisse ein.»

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92 Kommentare
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Pontifax
31.03.2022 08:04registriert Mai 2021
Auch das Putin wird eines Tages das Zeitliche segnen. Dann waren alle Ermordungen, alle Zerstörungen für nichts. Weil sich seine Konstrukte nämlich genau in das auflösen werden: in NICHTS. Übrig bleibt am Ende nur ein isoliertes Russland, welchem man kein Vertrauen mehr entgegen bringen kann und welches deshalb auf den Grad eines Entwicklungslandes zurück fällt.
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Pummelfee
31.03.2022 08:06registriert Mai 2020
Aber zu denken, dass dieselbe Strategie, wie bei der Übernahme der Krim, ein zweites Mal erfolgreich sein kann, ist schon ziemlich dämlich. Damit lassen sich sogar Nichtstrategen wie wir nicht mehr irreführen. Mittlerweile trau ich diesem Pinocchio so ziemlich alles zu.
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Blanda
31.03.2022 07:58registriert Mai 2015
Standhaft bleiben. Keine Kompromisse.. Frieden ist die einzige Option!
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Sie nennen ihn «Daddy»: Damit sind die Europäer auf der richtigen (Schleim-)Spur
Schmeicheleien und Lobhudelei: Wer von Donald Trump etwas will, muss gänzlich schmerzbefreit an dessen Eitelkeit appellieren. Bei der Nato hat das geklappt. Beim Handelskonflikt könnte es ähnlich funktionieren.

Wer Donald Trump und den Nato-Generalsekretär Mark Rutte am Gipfeltreffen der westlichen Verteidigungsallianz diese Woche live miterlebt hat, kam um einige Momente des Fremdschämens kaum herum.

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