Herr Masuhr, wie lange noch, bis die ersten Schüsse fallen in der Ukraine?
Niklas Masuhr: Es ist immer noch nicht klar, ob überhaupt Schüsse fallen werden. Aber es gibt zwei Faktoren, die massgeblich über die nächsten Wochen entscheiden werden.
Erzählen Sie.
Einerseits meteorologische Faktoren. Ein potenzieller Angriff Russlands müsste stattfinden, wenn der Boden noch gefroren und damit fest und trocken genug ist. Ansonsten würde schweres russisches Kriegsgerät womöglich im Schlamm steckenbleiben. Deswegen ist auch seit längerem die Rede eines Angriffs Anfang oder Mitte Februar.
Was ist der andere Faktor?
Politische Dynamiken. Die USA und Russland verhandeln offiziell immer noch miteinander. Auch das Timing ist wichtig. Die Olympischen Spiele starten demnächst. 2008 hat Russland Georgien zur gleichen Zeit wie die Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele in Peking angegriffen. Offen ist, ob Peking eine russische Ukraine-Offensive als Affront betrachten würde, da dies die Spiele stören könnte.
Stichwort Timing: Wieso lässt Russland den Ukraine-Konflikt genau jetzt wieder aufflammen? Was will Moskau damit erreichen?
Unter Experten herrscht momentan der Konsens, dass sich das Timing durch zwei Dinge erklären lässt. Einerseits durch den aus russischer Sicht zunehmend selbstbewussteren Kurs der ukrainischen Regierung unter Präsident Selenskyj; andererseits durch die Annäherungsversuche der Nato an die Ukraine. In Moskau scheint man das Gefühl zu haben, dass da rote Linien überschritten wurden. Russland will den Spiess nun scheinbar umdrehen und handeln, bevor es zu spät ist.
Was meinen Sie mit zu spät?
Russland hat Angst, dass eine militärische Intervention in fünf bis zehn Jahren nicht mehr möglich wäre, wenn sich die Ukraine weiter dem Westen und der Nato annähert.
Wie hoch stehen die Chancen für Krieg wirklich? Glauben Sie nicht, dass Russland nur geopolitische Machtspielchen treibt?
Zum einen wird in der Ukraine bereits seit 2014 Krieg geführt, seit der Abspaltung der Krim und den Auseinandersetzungen in den Separatistengebieten Donezk und Luhansk. Zweitens geht es Moskau darum, grundsätzlich deutlich zu machen, dass man mit der gegenwärtigen europäischen Sicherheitsarchitektur nicht einverstanden ist. Ferner hat der russische Truppenaufmarsch an der Grenze ja nicht erst während der letzten Wochen begonnen, sondern bereits vor einem Jahr. Ich glaube nicht, dass Putin schon Ende 2020 seine Drohgebärden mit der festen Intention einer militärischen Eskalation startete. Aber die Schlinge um die Ukraine zieht sich immer weiter zu, auch mit den Truppenverschiebungen nach Belarus. Die militärische Option liegt offenkundig auf dem Tisch.
Putin war ja auch schon immer für eine Überraschung gut. Ob gegen die Tschetschenen, in Georgien oder auf der Krim – mit einem Angriff hat nie wirklich jemand gerechnet.
Das stimmt. Zudem machen all diese Einsätze Putin zum wohl erfahrensten Staatschef dieser Welt, wenn es um den Einsatz des eigenen Militärs geht. Ich glaube, die westlichen Mächte nehmen das ernst und haben ihre Naivität, die 2014 vielleicht noch da war, verloren.
Die USA bestimmt. Sie wollen mehrere tausend Soldaten sowie Kriegsschiffe und Flugzeuge nach Osteuropa und in das Baltikum senden.
Das illustriert sehr gut, dass es nicht nur um die Ukraine geht, sondern um die ganze Region. Mit den Truppenaufmärschen in Belarus stehen sich russische Streitkräfte und die Nato von Estland bis Polen gegenüber. Es ist also nachvollziehbar, dass die USA die Ostgrenze der Nato verstärkt. Es sendet ein deutliches Signal.
Bei mir kommt in dieser Situation vor allem das Signal an, dass sich der Konflikt mit Diplomatie nicht mehr lösen lässt. Wie sehen Sie das? Werden Russland oder die Nato je klein beigeben?
Der Kreml hat klargemacht, dass er sich nicht mehr ohne feste Zusagen mit politischen Verhandlungen zufriedengeben wird. Er will den Statuts der Ukraine zu seinen Gunsten geändert wissen. Die Nato wird dem wohl nicht zustimmen können.
Nehmen wir an, Russland würde die Ukraine tatsächlich angreifen. Wie muss man sich das vorstellen?
Da gibt es viele mögliche Szenarien, welche von den politischen Zielen Russlands abhängig sind. Will man eine Marionettenregierung in Kiew installieren? Oder das ukrainische Militär so weit dezimieren, um den Westen zu Zugeständnissen zu zwingen?
Sprechen wir über beide Szenarien.
Grundsätzlich gibt es verschiedene Optionen. Russland könnte die Ukraine mit Kurz- und Mittelstreckenraketen angreifen, ohne je eine Grenze zu übertreten. Zudem hat Moskau ja auch durchaus bewiesen, dass es über strategische Fähigkeiten im Cyberbereich verfügt. Realistischer wäre aber eine Kombination aus Luftangriffen und Bodeninvasionen. So könnten sowohl wichtige militärische und zivile Ziele in Grenznähe angegriffen, als auch weiter ins Landesinnere vorgedrungen werden. Dass Russland die Ukraine im Norden, Osten und Süden umzingelt hat, würde ein solches Vorgehen begünstigen.
Wo würden sich die meisten Gefechte abspielen?
Der Schwerpunkt der russischen Bodentruppen ist am Dreiländereck zwischen der Ukraine, Belarus und Russland konzentriert. Das liegt nordöstlich von Kiew, in der Nähe des russischen Jelnja. Aus dem Donbass wären natürlich ebenso Vorstösse zu vermuten, womit der Schwerpunkt von Kampfhandlungen östlich des Dnjepr zu vermuten ist. Im Süden gäbe es wohl eher limitierte Einsätze, aber auch im Schwarzen Meer werden beispielsweise Landungstruppen zusammengezogen und natürlich kontrolliert Russland weiterhin die Krim. Die potenziell lange Frontlinie und relative Defizite in gewissen Schlüsselfähigkeiten, wie zum Beispiel der Luftverteidigung, zwingt die ukrainische Armee also dazu, sich zu verteilen. Das ist ein grosses Problem.
Könnte die Ukraine einem Angriff standhalten?
Die ukrainische Armee wurde nach den Ereignissen auf der Krim und im Donbass modernisiert und erweitert. Aber die Russen sind auf dem Papier immer noch überlegen. Egal ob bei der Artillerie oder auf engem Raum. Sie müssten es jedoch schaffen, Angriffe in kurzer Zeit erfolgreich umzusetzen.
Wie meinen Sie das?
Eine längerfristige Besetzung von ukrainischem Gebiet halte ich für unwahrscheinlich. Das würde extrem kostspielig werden und die Ukraine würde erheblichen Widerstand leisten. Es stellt sich also die Frage, ob Moskau der Ansicht ist, einen solchen Angriff erfolgreich durchführen zu können.
Weil ein festgefahrener Konflikt für Russland eine totale Eskalation oder einen Rückzug bedeuten würde.
Genau. Einen Rückzug könnte sich der Kreml nur schwer leisten. Und eine totale Eskalation wäre wahrscheinlich auch nicht im Sinne Russlands. Was auch wieder in die Abwägung einfliesst, ob überhaupt ein Angriff gestartet werden soll, wenn Moskau sich nicht sicher ist, ob sie einen Blitzangriff überhaupt erfolgreich durchführen könnten.
Was würde ein Krieg in der Ukraine für Europa bedeuten?
Eine militärische Auseinandersetzung wäre höchstwahrscheinlich mit sehr vielen Opfern verbunden. Es gäbe eine humanitäre Notlage. Es ist völlig offen, wie Europa darauf reagieren würde. Für die EU an sich würde es sicher nicht leichter werden, wenn vor ihrer Haustüre ein Krieg ausbricht. Klar ist, dass sich die Nato verstärken müsste. Amerikanische Streitkräfte müssten in Europa bleiben und die USA könnten sich weniger auf China konzentrieren.
Bisher geben sich Länder wie Deutschland sehr zurückhaltend. Der Marinechef Kay-Achim Schönbach zeigt Verständnis für Russland, die deutsche Regierung will keine Waffen an die Ukraine liefern. Was halten Sie von dieser Zurückhaltung?
Die ist nicht bei allen europäischen Nato-Staaten zu sehen. Frankreich zum Beispiel zeigt sich entschlossen, seine Militärausgaben zu erhöhen – allerdings blickt man in Paris strategisch eher nach Süden als nach Osten. Deutschland ist tatsächlich ein Sonderfall. Ich glaube nicht, dass das Land bereit wäre, seine Militärausgaben zu erhöhen. Selbst wenn es zu einem Krieg kommt in der Ukraine. Zwar hat auch in Deutschland seit 2014 ein Umdenken stattgefunden, aber die pazifistischen Ansichten der Deutschen werden sich nicht einfach in Luft auflösen.
Könnte Russland seinerseits auf die Unterstützung seiner Bevölkerung zählen?
Das kann ich nicht wirklich einschätzen. Es würde aber sicherlich darauf ankommen, wie effizient und erfolgreich eine allfällige Militäroperation wäre. Bei grossen Verlusten auf russischer Seite bekäme der Kreml wahrscheinlich nur wenig Rückendeckung aus der Bevölkerung. Das würde sich aber erst retrospektiv zeigen. Die jetzige Haltung der Bevölkerung hat wohl dementsprechend eher weniger Einfluss auf das Handeln des Kremls.
Die USA und Grossbritannien haben bereits ihr Botschaftspersonal aus Kiew abgezogen. Sollte die Schweiz nachziehen?
Da muss man vorsichtig sein. Rückholaktionen des Botschaftspersonals sind immer auch Teil der Kommunikationsstrategie.
Ähm.... Dombas Region?
Sie meinten wohl bis die grosse Offensive beginnt.
haben jedoch gezeigt, das man mit Putin nicht verhandeln kann. Der dritte Ansatz war, alles zu vermeiden, was provoziert (...) Daher bleibt uns nur das Mittel, uns so zu bewaffnen, dass eine Invasion Putin teuer zu stehen käme."