International
Russland

Russland-Ukraine-Krieg: Soldaten halten Zivilisten in Keller gefangen

«Wir wussten nicht, was passiert»: Wie russische Soldaten 200 Zivilisten als Geisel nahmen

Russische Streitkräfte sollen 200 Bewohner einer Überbauung bei Kiew als Geiseln gehalten haben. Einige konnten mittlerweile fliehen. Was sie erlebt haben.
21.03.2022, 11:1521.03.2022, 14:04
Mehr «International»

Mit Waffengewalt aus der Wohnung entführt und im eigenen Keller tagelang mit den Nachbarn eingepfercht werden – auch das ist Krieg in der Ukraine. Und ein Kriegsverbrechen.

Sieben Geiseln in einer Überbauung bei Hostomel konnten den russischen Soldaten mittlerweile entkommen. Sie haben ihre Geschichte der «New York Times» erzählt:

Die Tage vor der Geiselnahme

Bereits am ersten Tag des russischen Angriffskrieges in der Ukraine haben russische Streitkräfte versucht, den Flughafen in Hostomel einzunehmen. Er liegt rund 20 Kilometer nordwestlich von Kiew und wird vor allem als Fracht- und Werksflughafen für den Flugzeugbauer Antonov genutzt. Die Bewohner der Pokrovsky-Überbauung haben das Inferno von ihren Balkonen aus gefilmt.

Jeden Tag seien die russischen Streitkräfte näher an die Überbauung herangerückt. Am 3. März dann sei eines der 14 Gebäude der Überbauung direkt von einer Rakete getroffen worden.

«Ich schrieb an meine Tochter. Ich habe mich von ihr verabschiedet. Ich sagte ihr, dass wir jetzt wahrscheinlich bombardiert werden.»
Lesya Borodyuk gegenüber der «New York Times»

Kurz darauf hätten russische Soldaten die Überbauung gestürmt – und später am selben Tag buchstäblich vor der Wohnungstüre der Anwohner gestanden, wie die ehemaligen Geiseln der «New York Times» berichten.

Soldaten wüten im Gebäude

«Wir sahen die russische Infanterie auf der Überwachungskamera unseres Gebäudes. Von diesem Moment an blieben die Russen.»
Roman Naumenko gegenüber der «New York Times»

Die Invasion der russischen Armee in der Pokrovsky-Überbauung wurde von Überwachungskameras aufgezeichnet. Die Videos zeigen, wie die russischen Soldaten mit ihren Waffen Türen rammen und im Lift randalieren, indem sie Überwachungskameras zertrümmern:

Auf anderen Videos ist zu sehen, wie die russischen Soldaten schweres Kriegsgerät in die Gebäude schleppen und Anwohner in die Gebäude beordern:

Die Geiselnahme

Die russischen Soldaten hätten rund 200 Bewohner der Überbauung in ihren eigenen Kellern eingekerkert und sie als Geiseln festgehalten – und danach ihre Wohnungen übernommen, erzählen die ehemaligen Geiseln der «New York Times».

«Sie fragten niemanden etwas, sondern sagten nur, wir sollen in den Keller gehen.»
Elena Anishchenko gegenüber der «New York Times»

Andere Bewohner seien in ihren eigenen Wohnungen gegangen. Und wieder andere würden sich immer noch im Gebäude vor den russischen Streitkräften verstecken.

«Wir wussten nicht, was mit uns passiert. Es war einfach ein totaler Zustand der Angst.»
Ksenia gegenüber der «New York Times»

In einigen Gebäuden seien die Soldaten von Stockwerk zu Stockwerk getingelt, hätten Türen aus den Angeln gerissen und Wohnungen durchsucht, so die Bewohner.

Das Kriegsverbrechen
Mit dem Raketenangriff auf das Pokrovsky-Überbauung sowie der Gefangennahme von Zivilisten hat die russische Armee ein Kriegsverbrechen begangen. Denn laut der Genfer Konventionen – dem Kern des humanitären Völkerrechts – ist es verboten, zivile Gebäude und Infrastruktur während eines bewaffneten Konfliktes anzugreifen. Zivilisten müssen zudem stets geschützt werden und hätten ein Recht auf Kommunikation.

Auch Russland hat die Genfer Konvention unterzeichnet.​

Die Tage als Geisel

Den Geiseln seien Handy und Laptops entrissen worden:

«Sie sagten uns: ‹Seien Sie uns nicht böse, aber wenn wir Ihr Telefon finden, werden Sie auf der Stelle erschossen.›»
Elena Anishchenko gegenüber der «New York Times»

Je nach Wache hätte sich der Alltag anders gestaltet: Einige Geiseln hätten von Zeit zu Zeit in ihre Wohnungen gedurft, um Essen und warme Kleidung zu besorgen. Sie hätten sogar gemeinsam gekocht und sich unterhalten. Andere seien von strengeren Soldaten bewacht worden, meinten die ehemaligen Bewohner der Überbauung gegenüber der Zeitung.

Da es keinen Strom gegeben habe, hätten die Bewohner improvisieren müssen. So zündeten sie Öl in Untertassen an, um Essen aufzuwärmen oder benutzten Kerzen, um einen Kanister Wasser zu erhitzen.

Währenddessen war die Gegend weiter schwer umkämpft.

«Wir gewöhnten uns an die Schiessgeräusche und lernten, sie zu unterscheiden. Ob sie von weit weg kamen oder nah waren. Ob es im Gebäude war oder über dem Gebäude ging. Wir konnten das hören.»
Roman Naumenko gegenüber der «New York Times»

Die Gespräche mit den Russen

Lesya Borodyuk erzählt, wie sie ein Gespräch zwischen einem russischen Offizier und einer kleinen, weinenden Geisel belauscht habe. Dabei transportiert der Offizier den von Wladimir Putin genannten Kriegsgrund der angeblichen «Denazifizierung» der Ukraine:

«Meine Tochter ist auch 8 Jahre alt. Ich liebe sie sehr. Ich vermisse sie. Hab keine Angst, kleines Mädchen, wir werden dich von den Nazis befreien.»
Satz eines russischen Offiziers zu einem ukrainischen Mädchen. Zitiert nach Lesya Borodyuk in der «New York Times»

Junge Soldaten zeigten sich teilweise hilflos. So hätte eine der Geiseln eine der Wache gefragt, was er in der Ukraine denn genau wolle. Und dieser habe geantwortet:

«Wo bin ich? Was soll ich tun?»
Frage eines jungen russischen Soldaten an seine ukrainischen Gefangenen. Zitiert nach Lesya Borodyuk in der «New York Times»

Die Flucht

Am 9. März vereinbarten Russland und die Ukraine die Einrichtung mehrerer humanitärer Korridore für 72 Stunden, um der Zivilbevölkerung einen sicheren Weg aus dem Konfliktgebiet rund um Hostomel zu ermöglichen. Doch die russischen Besatzer in der Pokrowski-Überbauung hätten es versäumt, ihre Gefangenen zu informieren.

Während eines überwachten Essensbesuchs in der Wohnung habe eine der Geiseln vom Fenster aus einen Konvoi mit weissen Flaggen vorbeiziehen sehen. Erst auf Nachfrage hätte einer der Wachen erklärt, dass humanitäre Korridore eingerichtet worden wären. Daraufhin hätten einige der Nachbarn ihre Taschen gepackt und seien geflüchtet.

Als sie im Begriff gewesen seien, das Gebäude zu verlassen, hätte ein russischer Soldat sie gewarnt, dass einige seiner Kollegen womöglich auf die Gruppe schiessen könnten. Sie flohen trotzdem und kamen unverletzt davon.

«Was ich gesehen habe, war ein Albtraum.»
Roman Naumenko gegenüber der «New York Times»

Die «New York Times» hat die ehemaligen Geiseln in Kiew erreicht. Naumenko wolle vorläufig dort bleiben – um zu kämpfen. (yam)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Bilder des Ukraine-Kriegs, die um die Welt gehen
1 / 9
Bilder des Ukraine-Kriegs, die um die Welt gehen
Menschen versammelten sich am 24. Februar am New Yorker Times Square, um gegen die russische Invasion zu protestieren.
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Diese Drohnenaufnahme zeigt die Zerstörung von Mariupol
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
82 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Tokyo
21.03.2022 11:36registriert Juni 2021
Putin und seine Bande gehören vor Gericht gestellt
19414
Melden
Zum Kommentar
avatar
Liebu
21.03.2022 12:00registriert Oktober 2020
Einige Schicksale von Tausenden.
Sie ähneln sich wie ein Ei dem anderen.
Alles was die Russen den Ukrainern vorwerfen und bei sich selbst abstreiten, wird immer und immer wieder erwähnt.
Wichtig ist, diese Taten zu dokumentieren, zu verifizieren und dann, die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.
Stoppt den Wahnsinn.
1467
Melden
Zum Kommentar
avatar
egrs
21.03.2022 11:52registriert Juni 2019
Richtig erschütternde Eindrücke -das kann man sich nicht einmal vorstellen was das für Traumata und für Leid auslöst, wo sich die Überlebenden wahrscheinlich Jahre lang nicht davon erholen können wenn sie es überhaupt jemals können. Unfassbar dass so was noch im heutigen Zeitalter passieren kann, richtig schrecklich so was
1217
Melden
Zum Kommentar
82
Mühlrad des Pariser Cabarets Moulin Rouge stürzt ab

Das Mühlrad des Pariser Varieté-Theaters Moulin Rouge ist vom Dach auf den Bürgersteig herabgestürzt, ohne dass Menschen verletzt worden sind.

Zur Story