Ende Mai wählen die Stimmbürger der 28 EU-Mitgliedstaaten ein neues Europaparlament. Früher waren Beachtung und Beteiligung tief. Das dürfte 2019 anders sein, denn die Europäische Union ist unter Druck. Erwartet oder befürchtet werden Gewinne für rechte Nationalisten und Populisten. Überschattet wird die Wahl zudem vom immer noch offenen Austritt Grossbritanniens aus der EU.
Wie konnte es soweit kommen? Als die heutige EU mit den Römischen Verträgen 1957 gegründet wurde, stand der Kontinent unter dem Eindruck einer katastrophalen ersten Jahrhunderthälfte mit zwei grauenvollen Weltkriegen und heftigen wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen. «Nie wieder!» lautete die Devise der Gründerväter. Europa sollte friedlich zusammenwachsen.
Mehr als 60 Jahre danach ist von dieser Aufbruchstimmung wenig geblieben. Das vereinigte Europa steckt in der wohl grössten Krise seiner Geschichte und wird von Zentrifugalkräften strapaziert. Verantwortlich dafür sind teilweise äussere Einflüsse wie die wirtschaftliche Globalisierung. Primär aber ist die Krise hausgemacht, durch teilweise gravierende Fehler.
Die EU ist ein Eliteprojekt, erschaffen von Staatsmännern (Frauen gab es in den Anfängen so gut wie keine). Im Bestreben nach einer «immer engeren Union der Völker Europas», so die Einleitung des Maastrichter Vertrags von 1993, versäumten sie es, diese Völker mitzunehmen. Für sie ist die EU oft identisch mit einem bürokratisch-zentralistischen Moloch in Brüssel.
Die Quittung gab es bei mehreren Volksentscheiden. Die Dänen stimmten dem Maastrichter Vertrag erst im zweiten Anlauf zu, nachdem ihnen umfassende Ausnahmeregeln gewährt wurden. Die mit beträchtlichem Aufwand erarbeitete Europäische Verfassung scheiterte 2005 an der Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden. Die Kluft zwischen Volk und Elite war offenkundig.
Die EU reagierte, indem sie dem früher ziemlich machtlosen Parlament mehr Kompetenzen gab und die Tendenz zur Vereinheitlichung in den letzten Jahren bremste und teilweise zurücknahm (Stichwort Gurkenkrümmung). Um die EU bürgernäher zu gestalten, wären weiter Anstrengungen nötig. Dabei sind die Mitgliedsstaaten oft keine Hilfe, etwa wenn sie die «böse» EU in Brüssel zum Sündenbock für häufig hausgemachte Missstände erklären.
Die gemeinsame Währung war gedacht als wichtiges Element zur Vertiefung der europäischen Einigung. Heute ist der Euro zum vielleicht grössten Spaltpilz der Union geworden. Hauptgrund sind massive Konstruktionsfehler. So wurden Länder in die Eurozone gelassen, die dort eigentlich nichts zu suchen hatten, allen voran Griechenland, das seine Bilanz kräftig frisiert hatte.
Das ging einigermassen gut bis 2010, als das griechische Kartenhaus zusammenkrachte und weitere Länder wie Irland und Portugal in Schieflage gerieten. Ein Zerfall der Eurozone konnte vermieden werden, auch weil die Europäische Zentralbank sie mit einer Nullzinspolitik und dem Kauf von Staatsanleihen stützte. Ausserdem wurden Rettungsschirme für wankende Staaten aufgespannt.
Experten sind sich einig, dass eine gemeinsame Währung nur mit einer Fiskalunion und einem Euro-Finanzminister funktionieren kann. Dagegen sträuben sich die Deutschen, obwohl sie die ersten waren, die gegen die Vorgabe einer maximalen jährlichen Neuverschuldung von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts verstossen hatten. Der Euro bleibt eine tickende Zeitbombe.
Der Traum von einem Europa ohne Grenzen wurde mit dem Abkommen wahr, das 1985 im luxemburgischen Schengen unterzeichnet wurde. Ergänzend kam 1990 das Dubliner Übereinkommen hinzu. Es hält fest, dass ein Asylantrag grundsätzlich von jenem Land behandelt wird, in dem die betreffende Person eingereist ist. Auf dem Papier überzeugt dieses Konzept.
In der Realität hat sich das Dubliner Abkommen ähnlich wie der Euro als Schönwetterkonstrukt entpuppt, das nur in guten Zeiten funktioniert. Bei einem grossen Asylaufkommen geraten die betreffenden Staaten schnell an den Anschlag. Besonders deutlich zeigte sich dies während der Flüchtlingskrise 2015, als Griechenland heillos überfordert war und die Balkanroute öffnete.
Alle Versuche, die Asylsuchenden besser auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen, scheiterten bislang vorab am Widerstand aus Osteuropa. Eine Reform des Dublin-Systems scheint so wenig machbar wie jene der Eurozone. Die Europäer wollen deshalb die Sicherung der Schengen-Aussengrenzen verstärken, doch dabei kommen ihnen häufig nationale Befindlichkeiten in die Quere.
Ein Meilenstein in der Geschichte der EU ist der Binnenmarkt, der 1993 in Kraft getreten ist. Er ermöglicht den weitgehend schrankenlosen Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Personen. Die Möglichkeit, in allen dem Binnenmarkt angeschlossenen Ländern unbürokratisch eine Arbeit anzunehmen, ist eine grosse Chance. Und ein Risiko in Ländern mit starker Zu- und Abwanderung.
Das Ja zum Brexit und zur Masseneinwanderungsinitiative in der Schweiz waren eine Folge dieses Unmuts. Durch das immer noch grosse Wohlstandsgefälle in Europa steigt die Gefahr von Lohndumping, weshalb auch linke Kreise die Personenfreizügigkeit nicht nur positiv beurteilen. Ausserdem müssen ärmere Länder mit einem Braindrain in reiche Regionen fertig werden.
Für die EU-Kommission und die Mitgliedsländer bleibt die Personenfreizügigkeit als eine der Grundfreiheiten im Binnenmarkt dennoch unantastbar. Dabei wäre der Brexit mit mehr Flexibilität wohl vermeidbar gewesen. Zu den grössten Verteidigern der Binnenmigration gehören im übrigen ausgerechnet die Osteuropäer, die bei der Verteilung von Flüchtlingen eine Lösung blockieren.
Der gravierendste Vorwurf an die EU ist die mangelnde demokratische Legitimation. Immerhin versteht sie sich als Wertegemeinschaft demokratischer Staaten. Er kommt nicht von ungefähr. Obwohl das EU-Parlament immer mehr Kompetenzen erhalten hat, werden die Weichen vom Ministerrat und den Staats- und Regierungschefs gestellt, meist hinter verschlossenen Türen.
Wenig hilfreich für das Demokratie-Image der EU waren die wiederholten Abstimmungen in Mitgliedsländern wie Irland, bis das «gewünschte» Ergebnis herauskam. Das Subsidiaritätsprinzip, wonach möglichst viele Bereiche auf lokaler und nationaler Ebene geregelt werden sollen, wird seit Jahrzehnten beschworen, nach Ansicht vieler aber nur unzureichend umgesetzt.
Gleichzeitig werden in EU-Ländern wie Polen und Ungarn die Gewaltentrennung und die liberale Demokratie zunehmend aus den Angeln gehoben, ohne dass die EU viel dagegen unternehmen kann oder will. Einfache Rezepte zur Behebung des Demokratiedefizits gibt es nicht. Der Brexit-Entscheid etwa hat das Konzept der Volksabstimmung nicht unbedingt populärer gemacht.
Die Europäische Union hat schwere Fehler gemacht. Und so lange etwa beim Euro und bei Schengen/Dublin die Interessen der Mitgliedsländer frontal aufeinanderprallen, ist Besserung nicht in Sicht. Denn die EU ist im Endeffekt eben nicht der Moloch in Brüssel, sondern die Summe ihrer Mitglieder, und die gewichten ihre nationalen Interessen meist höher als die gesamteuropäischen.
So dürfte sich die EU weiter durchwursteln. Ein Lichtblick aber besteht: Die Umfragen der letzten Zeit zeigen, dass die Europäerinnen und Europäer das Konzept EU so positiv beurteilen wie lange nicht. Sie scheinen erkannt zu haben, dass nur ein geeintes Europa im globalen Wettstreit mit den USA oder China bestehen kann. Und das Brexit-Chaos hat dazu geführt, dass selbst die Rechtspopulisten von einem Austritt nichts mehr wissen wollen.
Oder zumindest so tun als ob.
Das Problem ist nur, dass die diversität unter den europäischen Staaten immens ist, nicht zuletzt, weil die EU auch (ungesund?) schnell gewachsen ist.
Die Menschen in der EU würden diese ernst nehmen, wenn sie sich ausnahmsweise für Ideen entscheiden dürften, anstatt für Personen, die unter Parteizwang stehen.
Volksentscheide werden regelmässig vom EU-Parlament gekippt, da EU-Recht über dem Recht einzelner Mitgliedsstaaten steht.
Wenn man dann die leeren Sitze im EU-Parlament sieht, könnte man nur noch kotzen. Teilweise werden wichtige Entscheidungen für ganz Europa von 30 Leuten bestimmt.
Aber ja; "Demokratie"