Soll er antreten oder nicht? Warum Selenskyj wegen der Wahlen im Dilemma steckt
Als Wolodymyr Selenskyj 2019 fulminant die Präsidentschaftswahl gewann, gab er den Ukrainern ein zentrales Versprechen ab: Er werde nur für eine Amtszeit kandidieren. Er wolle alle seine Vorhaben in den ersten fünf Jahren erledigen – Punkt.
Der russisch-ukrainische Krieg und die damit verbundene, verfassungsbedingte Aussetzung von Wahlen haben Selenskyjs Amtszeit bereits um eineinhalb Jahre verlängert. Schon vor dem russischen Angriff im Februar 2022 gab es unterschiedliche Stimmen aus seinem Umfeld, die eine erneute Kandidatur nicht ausschliessen wollten. Und obschon weder ein Kriegsende noch Neuwahlen in Sicht sind, drängt sich angesichts Selenskyjs historischer Leistung die Frage nach der Zukunft seiner Präsidentschaft auf.
Im Interview mit Axios Ende September betonte der ukrainische Präsident erneut: Sollte der Krieg mit Russland beendet werden, sei er bereit, auf eine zweite Amtszeit zu verzichten. Eine dieser Tage vom renommierten Kiewer Soziologie-Institut veröffentlichte Studie zeigt: Genau das sollte er tun.
Zwar liegt das Vertrauen in Selenskyj als Träger einer lebendigen ukrainischen Demokratie weiterhin bei mehr als soliden 60 Prozent. Im Vergleich zum Sommer bedeutet das sogar einen leichten Anstieg um zwei Prozentpunkte. Allerdings wollen nur 25 Prozent, dass Selenskyj nach dem Krieg auf seinem Spitzenposten verbleibt. Weitere 18 Prozent hätten lediglich nichts dagegen, dass er überhaupt weiter Politik macht.
Durchwachsene Bilanz vor dem russischen Angriff
Die Bilanz Wolodymyr Selenskyjs als Halbfriedenspräsident – im Donbass tobte schon 2019 Krieg, und die Ukraine stand nach der Krim-Annexion unter massivem russischem Druck – fiel durchwachsen aus. Während ihm nach der Wahl 80 Prozent der Ukrainer vertrauten, waren kurz vor dem russischen Angriff bereits 57 Prozent mit seiner Präsidentschaft unzufrieden.
Viel mehr als die überfällige Landreform – die Ukraine gehörte zu den letzten Ländern der Welt, in denen die Privatisierung von Grundstücken verboten war – hatte Selenskyj nicht vorzuweisen, und er wirkte in seiner Rolle unsouverän. Dabei verfügte seine hastig zusammengestellte Partei im Parlament über eine für die Ukraine einmalige absolute Mehrheit.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es in der Natur der ukrainischen politischen Kultur liegt, wenn die Zustimmungswerte jedes Staatsoberhaupts sehr rasch abstürzen. Seit der Unabhängigkeit wurde bisher erst ein einziger Präsident wiedergewählt.
Mit Putins Überfall kam die Wende
Die grosse Verwandlung Selenskyjs begann am 24. Februar 2022. Der «einfache Junge» aus dem industriellen Krywyj Rih liess sich vom Aggressor aus Moskau nicht unterkriegen – und trug mit seinem mutigen Auftreten entscheidend dazu bei, dass die Ukraine als unabhängiger Staat überhaupt noch existiert. Nur: Ein guter Kriegspräsident ist nicht automatisch ein guter Friedenspräsident.
Dass Selenskyj bis zum Kriegsende an der Macht bleiben sollte, wird selbst vom Grossteil seiner Kritiker nicht bestritten. Das zeigte sich auch im Sommer, als in der Ukraine nach der stark angefeindeten und schnell zurückgenommenen Beschneidung der Antikorruptionsorgane erstmals seit 2022 wieder bedeutende Strassenproteste ausbrachen. Die Protestierenden stellten dabei Selenskyjs Rolle als Präsident nicht infrage.
Für die Zeit nach dem Krieg, der vermutlich mit schmerzhaften Kompromissen seitens Kiew enden wird, braucht das Land jedoch dringend frischen Wind. Schon jetzt heisst es im Regierungsviertel hinter vorgehaltener Hand: Alle sind vom Krieg müde und ausgelaugt, zuvorderst der Präsident. Im Fall von Selenskyj kommt hinzu, dass sein Regierungsmodell nach einem Waffenstillstand nicht mehr funktionieren würde.
Aktuell regiert er nicht autoritär, ist jedoch dank Parlamentsmehrheit und Kriegsrecht mit Befugnissen ausgestattet, die er – als Politik-Quereinsteiger ohnehin kein Fan von Institutionen – nie wieder erhalten wird. Dass seine Partei im Parlament bei Neuwahlen erneut die absolute Mehrheit erringen kann, ist höchst unwahrscheinlich.
Aber es gibt eine grosse Unbekannte: Abgesehen von seiner Frau Olena, die Wolodymyr ohnehin nie in der Politik sehen wollte, aber als First Lady hervorragend auftritt, dürfte dies seine engste Umgebung um den mächtigen Kanzleichef Andrij Jermak ganz anders sehen. Die sogenannten «fünf, sechs Manager», wie Selenskyj sein engstes Team jeweils nennt, haben ohne ihn keine politische Zukunft.
Es ist daher zu befürchten, dass Selenskyj von ihnen in eine zweite Kandidatur gedrängt wird – mit offenem Wahlausgang, ob gegen den populären Ex-Armeechef Waleri Saluschni oder eine völlig neue Figur. «Ich will zunächst ans Meer und ein Bier», sagte Selenskyj 2022 über seine persönlichen Wünsche nach dem Krieg. Beides hat er sich mehr als verdient. Alles andere zeigt sich, sobald die Waffen schweigen. (aargauerzeitung.ch)
