Kreml-Funktionärin gesteht Kindes-Entführung nach Russland
Sie gilt als eine der Hauptverantwortlichen für die Entführung ukrainischer Kinder nach Russland und wird vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht. Jetzt hat Marija Lwowa-Biełowa die Vorwürfe gegen sich öffentlich bestätigt – in einem Interview im russischen Fernsehen. Dort berichtete die Kommissarin für die Rechte von Kindern, so der zynische Titel der Kreml-Funktionärin, wie sie einen 15-jährigen ukrainischen Jungen aus dem völlig zerstörten und besetzen Mariupol «bei sich aufgenommen» habe.
Nach Angaben des «Kyiv Independent» schilderte Lwowa-Biełowa das mutmassliche Verbrechen in der Talkshow «Smotri i Dumai» («Schau und denk»). Den 15-jährigen Filip habe sie auf einer ihrer «humanitären Reisen» nach Mariupol «getroffen». Dort habe sie geholfen, Kinder «zu evakuieren». Russische Truppen eroberten die Grossstadt im Süden der Ukraine im Frühjahr 2022 nach wochenlangen Kämpfen. Wie viele der einst 440'000 Einwohner von Mariupol getötet wurden, ist unklar. Es könnten Zehntausende sein. Wann Lwowa-Biełowa den ukrainischen Jungen dort «traf», sagte sie nicht.
«Er sagte, ich will nicht in Russland leben»
Dabei machte Lwowa-Biełowa keinen Hehl daraus, dass sie Filip gegen seinen Willen nach Russland brachte. «Er sagte, 'ich will nicht in Russland leben. Ich liebe die Ukraine'», zitiert «Kyiv Independent» aus ihren Schilderungen. Russland und Moskau hätten ihn genervt. «Er hat die ganze Zeit ukrainische Lieder gesungen. Ich habe zu ihm gesagt: Willst Du mich damit provozieren? Wir sind doch Brüdervölker.»
Der Mythos vom «Brudervolk» dient der russischen Propaganda wiederholt als Rechtfertigung für den Vernichtungskrieg gegen das Nachbarland. Auch die systematische Entführung und «Umerziehung» ukrainischer Kinder dient dem Ziel des Kremls, eine eigenständige ukrainische Identität auszulöschen. Auch Lwowa-Biełowa berichtete in der Talkshow von ihrem angeblich erfolgreichen Versuch, Filip «umzuerziehen».
«Es gab einen Wendepunkt», sagte sie laut «Kyiv Independent». «Er las noch die ganze Zeit ukrainische Webseiten, als er schon bei uns in Moskau lebte. Ich sagte zu ihm: 'Hör zu, Du lebst jetzt in Russland und musst deine Einstellung ändern. Tu es wenigstens für mich.' Seitdem versuchen wir es Schritt für Schritt.» Auf die Frage des Moderators, warum Filip nicht in Russland leben wolle, sagte sie: «Das ist nur so eine Teenager-Sache».
Ukraine besteht auf Rückführung aller entführten Kinder
Laut «Kyiv Independent» fragte der Moderator Lwowa-Biełowa auch nach dem Haftbefehl, den der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag im März 2023 gegen sie ausstellte. Der Vorwurf lautet Kindesentziehung aus den von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine. «Sie verbreiten diesen Mythos, dass wir Kinder gegen ihren Willen mitnehmen, zu russischen Patrioten umerziehen und dann an die Front schicken», habe Lwowa-Biełowa geantwortet.
Dabei räumte Lwowa-Biełowa ein, dass der Haftbefehl gegen sie wohl im Zusammenhang mit Filip stehe: «Das war einer der Gründe. Weil ich ein Kind aus Mariupol 'entführt' und in meine Familie aufgenommen hätte – so sehen die das.» Von dem Haftbefehl erfahren habe sie nur aus den Medien.
Auf eine entsprechende Frage des Moderators bestätigte Lwowa-Biełowa zudem, dass Russland etwa 20'000 ukrainische Kinder «geholt» habe. Diese Angabe deckt sich mit den Vorwürfen Kiews. Etwa 1'200 Kinder konnten nach ukrainischen Angaben bislang aus Russland zurückgeholt werden. Die Rückführung der Kinder hat für Kiew auch höchste Priorität bei möglichen Friedensgesprächen mit Russland.
Kremlchef Wladimir Putin ernannte Marija Lwowa-Biełowa im Oktober 2021 zur Kommissarin für die Rechte von Kindern. Die 40-Jährige hat nach eigenen Angaben fünf eigene und vier adoptierte Kinder. Ausserdem habe sie die Vormundschaft für 13 Kinder mit Behinderung übernommen, sagte Lwowa-Biełowa nach ihrer Ernennung. Die ausgebildete Musikpädagogin ist Mitglied der Putin-Partei «Einiges Russland» und soll gute Kontakte zur russisch-orthodoxen Kirche haben.

