Zuerst muss ein weitverbreitetetes Missverständnis klargestellt werden: Die Abkürzung AR steht nicht für Assault Rifle (Sturmgewehr), sie steht vielmehr für ArmaLite Rifle, das Unternehmen, das diese Waffe entwickelt hat.
Der Vater dieses halbautomatischen Gewehrs hiess Eugene Stoner, ein Veteran des Zweiten Weltkrieges. In den Fünfzigerjahren arbeitete er als Ingenieur beim kleinen Waffenhersteller ArmaLite. Er wollte das Gewehr ausschliesslich für die Armee entwickeln, eine amerikanische Antwort auf die Kalaschnikow, das legendäre Sturmgewehr der Sowjets.
Im Vietnamkrieg wurden die US-Soldaten mit diesem Gewehr ausgerüstet. Es hiess M16 und wurde von Colt hergestellt. Dieser weit grössere Waffenproduzent hatte das Patent von ArmaLite erworben. Colt entwickelte auch eine Version für den zivilen Gebrauch, die halbautomatische AR-15. 1977 lief das Patent aus. Nun durfte jeder Waffenschmied seine eigene Version der AR-15 herstellen. Daher gibt es heute verschiedene Versionen davon.
Heute ist diese Waffe in den USA allgegenwärtig. Das zeigt die «Washington Post» in einer ausführlichen Reportage auf. Dazu ein paar Zahlen: Es wird geschätzt, dass mindestens 20 Millionen AR-15s in den USA in privatem Besitz sind. Das heisst auch, dass einer von 20 erwachsenen Amerikanern mindestens ein Stück davon besitzt. Die AR-15s dominieren heute die Schaufenster der Waffenverkäufer. «Sie haben die Vorstellungskraft der Amerikaner im Griff, sowohl positiv als negativ», stellt die «Washington Post» fest. «Seine unverkennbare Silhouette wird als politisches Statement auf T-Shirts und Fahnen verwendet.»
Der Kult um die AR-15 mag symbolisch sein, in der Realität hat er aber tödliche Konsequenzen. Die Täter von 10 der 17 Massaker, die seit 2012 begangen wurden, benützten eine AR-15. Auch bei der jüngsten Tat in Nashville, die sechs Opfer forderte, kam diese Waffe zum Einsatz. Weshalb also haben die Amerikaner die AR-15 nicht längst verboten? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir kurz in die Geschichte der USA zurückblenden.
In ihrem Buch «The Gunning of America» schreibt die Historikerin Pamela Haag: «Wir wurden mit einer Waffenkultur geboren. Amerikaner haben eine aussergewöhnliche, einzigartige und zeitlose Beziehung zu Gewehren, die mit den Milizen des Revolutionskrieges begann und sich von da an weiterentwickelte.»
Das Winchester-Gewehr wurde im Wilden Westen zum Symbol des Mannes, der seine Familie gegen Indianer und wilde Tiere verteidigte. Sein Erfinder Oliver Winchester benutzte Legenden wie Buffalo Bill und Calamity Jane als Werbeträger. Nach dem Ersten Weltkrieg lancierte sein Sohn William die «grösste und ausgeklügelteste nationale Werbekampagne, die je ein Waffenhersteller unternommen hat», wie Haag schreibt.
Das mythologisierte Gewehr allein erklärt den Erfolg der AR-15 nicht. Zunächst blieb die Waffe kommerziell erfolglos. Selbst die National Rifle Association (NRA) machte einen Bogen um die halbautomatische Waffe, denn für die Jagd war sie nicht geeignet und um allfällige Einbrecher abzuwehren, war sie viel zu potent. Zudem hatte sie einen schlechten Ruf. Sie galt als «schwarze Waffe», weil sie keinen hölzernen Kolben hat.
Das änderte sich nach dem 11. September 2001. Die Soldaten im Irak und in Afghanistan trugen ihre M16 zur Schau und wurden somit die besten Werbeträger für die zivile Version. «Es hat noch niemals in der Geschichte eine bessere zufällige Werbeaktion gegeben», sagt Doug Pinter, der ehemalige Präsident der National Shooting Sports Foundation (NSSF).
Als 2004 auch noch das nationale Verbot für Angriffswaffen aufgehoben wurde, begannen fast alle Hersteller, ihre eigene Version der AR-15 anzupreisen. Sie hatten dazu gute Gründe. Die Gewinnmarge pro Stück liegt bei 1000 Dollar, rund das Fünffache eines normalen Gewehrs. So richtig in die Höhe schossen die Verkäufe der AR-15 mit der Wahl von Barack Obama zum US-Präsidenten. Die vorwiegend weissen Bewohner der ländlichen Gebiete stürzten sich auf die Waffe, die Industrie krönte Obama 2009 spöttisch zum «Gewehrverkäufer des Jahres».
Die Hersteller machten die Waffe nun zu einem Gadget für Konsumenten. Sorgfältig achteten sie darauf, dass selbst das Klick-Geräusch stimmt, wenn man das Magazin einlegt. «Der beste Vergleich mit dem AR-Gewehr ist die Baseball-Mütze, welche der Teenager verkehrt herum trägt», sagt Pinter. «Es war nicht cool, bevor es plötzlich sehr cool wurde.»
Gleichzeitig fielen fast alle Sicherheitsvorschriften. «Das bedeutet, dass heute ein Spielgewehr mehr Sicherheitsvorschriften erfüllen muss als ein richtiges», stellt Haag fest.
Die zunehmende Polarisierung der amerikanischen Politik hat längst auch die AR-15 erfasst. Nun kauften auch Leute, die keine Waffennarren sind, das Gewehr, um so ein Zeichen zu setzen. Konservative Politiker lassen sich damit ablichten, manchmal zusammen mit Frau und Kindern. Die Waffe wurde zu einem «f-you an die Adresse der Linken», sagt Steuersenkungs-Papst Grover Norquist.
Zusammen mit dem zweiten Zusatz zur Verfassung – dieser erlaubt grundsätzlich den Besitz von Waffen – ist die AR-15 ein Heiligtum der amerikanischen Konservativen geworden. Inzwischen gibt es eigentliche Ikonen, beispielsweise den Teenager Kyle Rittenhouse, der mit dieser Waffe im Sommer 2020 bei Unruhen in der Stadt Kenosha (Wisconsin) zwei Menschen tötete und trotzdem freigesprochen wurde.
Die Obsession der konservativen Amerikaner mit der AR-15 ist nicht zu brechen. Es wird weitere Massaker mit dieser tödlichen Waffe geben, die Demokraten werden härtere Gesetze, ja ein Verbot fordern, die Republikaner werden dies im Kongress blockieren und stattdessen den Opfern ihre «Gedanken und Gebete» anbieten. Und die NRS wird weiter gebetsmühlenartig wiederholen: «Nicht Waffen töten Menschen. Menschen töten Menschen.»
Schon direkt wiederum falsch und mehrfach im Text wiederholt: die Firma heisst "ArmaLite".