Das westliche Modell aus liberaler Demokratie und Marktwirtschaft hat schon bessere Zeiten erlebt. Es wird durch den russischen Angriff auf die Ukraine ebenso herausgefordert wie durch Chinas Anspruch auf eine politische und wirtschaftliche Führungsrolle. Es droht eine Blockbildung zwischen freiheitlichen und autoritären Staaten, wie im Kalten Krieg.
Der Westen ringt um eine Antwort auf diese Herausforderung. Neben der Rückkehr des Krieges nach Europa äussert sie sich in weiteren Bereichen, die teilweise eine direkte Folge davon sind. Dazu gehören die drohende Energie- und eine Hungerkrise, von der vor allem Ostafrika betroffen ist. Zudem bleibt die Klimakrise ein «Dauerbrenner».
Die Gipfeltreffen folgen sich derzeit Schlag auf Schlag. Letzte Woche trafen sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel. Sie beschlossen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau. Am Sonntag begann in Bayern das Treffen der G7-Staaten, dem am Dienstag «nahtlos» der Nato-Gipfel in Madrid folgte.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bereits im Vorfeld den Tarif durchgegeben: Eine Partnerschaft sei «mit Putins aggressivem, imperialistischen Russland auf absehbare Zeit unvorstellbar», sagte er am letzten Mittwoch im Bundestag. Dem SPD-Politiker war in letzter Zeit wiederholt vorgeworfen worden, die Ukraine nur zögerlich zu unterstützen.
Als Gastgeber des G7-Treffens auf Schloss Elmau war Scholz entsprechend gefordert. Die sieben demokratischen Industriestaaten verständigten sich auf neue Sanktionen gegen Russlands Rüstungssektor. Das vor allem von den USA geforderte Embargo auf Goldexporte und ein «Preisdeckel» für russisches Öl hingegen sollen erst «geprüft» werden.
Dafür wurden neben den Chefinnen und Chefs grosser Organisationen (OECD, IWF, WHO, WTO) fünf weitere Länder eingeladen: Argentinien, Indien, Indonesien, Senegal und Südafrika. Brasilien wäre wohl dabei gewesen, wenn sein derzeitiger Präsident nicht «schwer vermittelbar» wäre. Es war ein Fingerzeig für die globalen Ambitionen der G7.
Wichtig war vor allem die Anwesenheit der «schlummernden Grossmacht» Indien. Sie pflegt gute Beziehungen mit Russland und hat sich in der Uno-Generalversammlung bei der Verurteilung des Ukraine-Kriegs enthalten. Zum asiatischen Rivalen China hingegen ist das Verhältnis traditionell schwierig. In letzter Zeit hat es sich eher wieder verschlechtert.
Russland wiederum antwortete auf die westliche «Offensive» auf seine Art. Es kündigte die Stationierung atomwaffenfähiger Iskander-Raketen in Belarus an und intensivierte den Raketenbeschuss auf Ziele in der Ukraine, so am Montag auf das Einkaufszentrum in Krementschuk. US-Präsident Joe Biden bezeichnete den Angriff auf Twitter als «grausam».
Beobachter glauben, Wladimir Putin setze verstärkt auf die Terrorisierung der ukrainischen Zivilbevölkerung, nachdem der militärische Vormarsch im Donbass trotz Überlegenheit an Mensch und Material nur im Schneckentempo vorankommt. Das sollte jenen auch bei uns zu denken geben, die Verhandlungen mit Putin fordern.
Gegenüber China wollen die G7 ebenfalls Präsenz markieren. Sie kündigten am Sonntag eine «Partnerschaft für globale Infrastruktur» im Umfang von 600 Milliarden Dollar an. Sie soll eine Gegenofferte darstellen zu Chinas «neuer Seidenstrasse». Auch die Einladung an die fünf Schwellen- und Entwicklungsländer ist ein Zeichen in Richtung Peking.
China ist auch am Nato-Gipfel in Madrid ein Thema, der am Dienstagabend mit einem Galadinner auf Einladung von König Felipe eröffnet wird. Früher war die Grossmacht im Osten für das nordatlantische Bündnis kein Thema. Doch seit China seine geopolitische Zurückhaltung unter Xi Jinping abgelegt hat, fühlt sich die Nato herausgefordert.
Das zeigen die nach Spanien eingeladenen Länder: Es handelt sich um Australien, Neuseeland, Japan (das einzige nichtwestliche G7-Mitglied) und Südkorea. Sie verbindet eine Rivalität gegenüber China und dessen Militärpräsenz im indopazifischen Raum. Der neue Fokus der Nato auf das Reich der Mitte geschieht vor allem auf Drängen der USA.
Die Europäer sind zurückhaltender, vor allem Deutschland mit seinen wirtschaftlichen Interessen. Dennoch wird sich das neue strategische Konzept der Nato, das in Madrid von den 30 Mitgliedsstaaten verabschiedet wird, erstmals mit China befassen, wie Generalsekretär Jens Stoltenberg am Montag an einer Medienkonferenz erklärte.
Der Norweger kündigte gleichzeitig eine Aufstockung der schnellen Eingreifkräfte von rund 40’000 auf mehr als 300’000 Soldatinnen und Soldaten an. Erhöht werden soll auch die militärische Präsenz in den drei baltischen Mitgliedsstaaten. Denn anders, als hiesige «Putin-Versteher» behaupten, hat sich die Nato gegenüber Russland lange zurückgehalten.
Sie hatte sich in der Nato-Russland-Grundakte von 1997 verpflichtet, auf die dauerhafte Stationierung «substanzieller Kampftruppen» im östlichen Bündnisgebiet zu verzichten. Mit dem Ukraine-Krieg ist dieses Versprechen obsolet geworden, auch wenn Bundeskanzler Scholz vor einer Kündigung der Grundakte warnte. Dies würde Putin in die Hände spielen.
Jens Stoltenberg kündigte am Dienstag in Madrid zudem weitere Hilfen für die Ukraine an, um die Selbstverteidigung des Landes zu unterstützen. «Es ist extrem wichtig, dass wir zu weiterer Unterstützung bereit sind, denn die Ukraine erlebt eine Brutalität, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen haben», sagte Stoltenberg.
Auch die G7 stünden «eng und unverbrüchlich an der Seite der Ukraine», sagte Olaf Scholz am Dienstag zum Abschluss des Gipfels in Elmau. Er kündigte eine grosse Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine an: «Wir brauchen einen Marshallplan für die Ukraine, der muss auch gut geplant und entwickelt werden, das haben wir uns vorgenommen.»
Die Ukraine Recovery Conference von nächster Woche in Lugano wird er kaum gemeint haben. Sie spielt im grossen Gipfel-Reigen keine Rolle, in den internationalen Medien ist sie kein Thema. Man wird den Eindruck nicht los, dass sich Bundespräsident Ignazio Cassis und die Schweiz mit dieser Konferenz selbst überschätzen.
Das ist auch einer der Gründe wieso diese Länder lieber mit Russland oder China Geschäfte tätigen.