Keir Starmer darf zwar ein «Sir» vor seinen Namen setzen, doch er stammt aus gewöhnlichen Verhältnissen, nicht aus dem britischen Adel wie einst Winston Churchill. Anders als der legendäre Führer des Vereinigten Königreichs im Zweiten Weltkrieg ist Starmer alles andere als eine charismatische Figur, er gilt als staubtrockener Technokrat. Von den rhetorischen Höhenflügen Churchills ist er zwar meilenweit entfernt, aber ein bisschen davon inspiriert scheint er trotzdem zu sein.
Zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron schlägt er vor, man müsse die Ukraine im Kampf gegen Russland «in der Luft, zur See und beim Aufbau einer Energie-Infrastruktur» unterstützen. Das erinnert zumindest ein bisschen an Churchills legendäre «Wir werden sie zur See, in den Hügeln und in den Strassen»-Rede nach der Evakuation der britischen Truppen aus der französischen Küstenstadt Dünkirchen.
Ganz so trostlos wie zu Beginn des Zweiten Weltkrieges ist die weltpolitische Lage derzeit noch nicht. Doch nachdem Donald Trump und sein Vize J.D. Vance Wolodymyr Selenskyj im Weissen Haus öffentlich abgewatscht haben, hat sich die geopolitische Lage dramatisch verändert. Die Letzten haben mittlerweile begriffen, dass auf die USA kein Verlass mehr ist und dass sich Europa jetzt auf die eigenen Füsse stellen muss.
Starmer hat dies nicht nur erkannt, er hat sogleich gehandelt und die wichtigsten europäischen Führer am Sonntag zu einer Krisensitzung nach London gerufen.
Sie sind gekommen und scheinen begriffen zu haben. «Wir müssen nun die mühsame Arbeit selbst erledigen», erklärte Starmer und ging mit dem guten Beispiel voran. Er hat 1,6 Milliarden Pfund (rund 1,8 Milliarden Franken) Sofortkredit bewilligt, um 5000 Luftabwehr-Raketen zu finanzieren, die in Belfast produziert werden.
Gleichzeitig hat er seine Amtskollegen dazu ermutigt, es ihm gleichzutun. Mit Erfolg: So wird in Berlin derzeit nicht mehr darüber diskutiert, ob man weitere Militärhilfe leisten soll, sondern in welcher Höhe und wie man das Paket durch den Bundestag schleusen will. Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin, hat in London ebenfalls zugesagt, die Hilfe auszuweiten, und erklärt zudem, man müsse die Ukraine in ein «stählernes Stachelschwein verwandeln, das für potenzielle Angreifer ungeniessbar» werde.
Emmanuel Macron ist mit von der Partie, Polens Premier Donald Tusk sowieso und auch Italiens Giorgia Meloni reiht sich in die von Starmer propagierte «Koalition der Willigen» ein. «Wir haben uns darauf geeinigt, dass das Vereinigte Königreich zusammen mit Frankreich und möglicherweise ein oder zwei anderen Ländern mit der Ukraine an einem Plan zur Beendigung der Kämpfe arbeiten wird, und dann werden wir diesen Plan mit den Vereinigten Staaten besprechen», erklärte Starmer nach dem Treffen.
Das dürfte nicht ganz einfach werden. Die Stimmung in Washington ist derzeit verworren, um es milde auszudrücken. Aussenminister Marco Rubio und Speaker Michael Johnson haben beide in den sonntäglichen TV-Shows bekräftigt, Präsident Donald Trump werde die Ukraine auf keinen Fall fallen lassen. Es gehe ihm vielmehr um eine Strategie, Putin an den Verhandlungstisch zu locken. Das sei nicht möglich, wenn man ihn verurteile, und ohne Verhandlungen werde es auch keinen Frieden geben.
Diese Äusserungen kontrastieren jedoch mit dem Europa-Bashing, das derzeit im Weissen Haus im Schwange ist. Vize Vance hat mit seiner Rede in München die Europäer nicht nur übel beschimpft, sondern auch gleichzeitig klargemacht, dass das Schicksal des alten Kontinents die Amerikaner nicht mehr interessiert. Ross Douthat, ein konservativer Kolumnist in der «New York Times» und einer von Vances Einflüsterern, beschreibt die aktuelle Lage des ehemaligen Verbündeten wie folgt:
Dass man sich über solche Töne in Moskau freut, ist nicht weiter verwunderlich. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte denn auch: «Die neue Regierung stellt die bisherige politische Konfiguration rasch auf den Kopf. Das deckt sich weitgehend mit unserer Vision.»
Putins Propagandisten können ihr Glück kaum fassen. So beispielsweise Margarita Simonyan vom TV-Sender Russia Today. «Das Oval Office hat schon viel gesehen, aber noch nie so etwas.» Der ehemalige Marionettenpräsident Dmitri Medwedew beschimpfte Selenskyj gar als «widerspenstiges Schwein, das endlich eine Ohrfeige erhalten habe».
Europa-Bashing in Washington, Jubel in Moskau: Die Sterne für die Ukraine stehen derzeit schlecht. Trotzdem will Starmer alle Hebel in Bewegung setzen, um das zerbrochene Geschirr zwischen Trump und Selenskyj wieder zu flicken. Deshalb fordert er den Präsidenten der Ukraine auch auf, den von Trump vorgeschlagenen Rohstoff-Deal anzunehmen. Die Idee dahinter: Haben die Amerikaner ein wirtschaftliches Interesse in der Ukraine, dann werden sie es auch nicht dulden, dass Putin sie sich unter den Nagel krallt.
Doch auch Moskau macht ähnliche Avancen an die Adresse des Weissen Hauses. Die «Financial Times» berichtet, dass Nord Stream 2, die umstrittene Gas-Pipeline zwischen Russland und Deutschland, zusammen mit amerikanischen Investoren in Betrieb genommen werden soll. Drahtzieher hinter diesem Plan ist der ehemalige Stasi-Agent und Putin-Kumpel Matthias Warnig.
Auf Starmer wartet daher eine herkulische Aufgabe. Er muss eine Schar von europäischen Willigen hinter sich scharen und Donald Trump wieder an Bord holen. «Lasst es mich deutlich ausdrücken», erklärt der britische Premier daher. «Wir sind uns mit dem amerikanischen Präsidenten einig, dass ein Frieden dringend notwendig ist. Jetzt müssen wir zusammen liefern.»
Es ist jetzt die beste (und wohl letzte) Gelegenheit, ein vereintes und widerstandsfähiges Europa zu bilden. Wirtschaftlich und militärisch. Wenn die diktatorischen Grossmächte im Osten UND Westen uns mit Füssen treten wollen, wird halt zurückgetreten.
Europa / EU tun gut daran, die eigenen Stärken zu stärken und die strategisch-militärischen Schwachpunkte rasch zu korrigieren.