Die Hände einer jungen Frau sind mit Kabelbinder hinter dem Rücken gefesselt. Blut fliesst aus einer Platzwunde am Kopf. Die Kleidung ist mit Blutflecken übersät. Ein Mann zerrt an ihren Haaren, um sie in ein Auto zu verfrachten. Im Hintergrund hört man Männer »Allahu Akbar«, «Allah ist gross», schreien.
Die Hamas macht keinen Hehl aus ihren Verbrechen und verbreitet Aufnahmen der Entführungen von israelischen Zivilist:innen zu Propagandazwecken in den sozialen Netzwerken. Wie ein Lauffeuer verbreiten sich die Kurzvideos.
Mindestens 150 Geiseln sind nach offiziellen Angaben von der Terrororganisation nach Gaza verschleppt worden, darunter Kinder und ältere Menschen, sogar eine Holocaust-Überlebende. Die Nachricht, die sie damit wohl vermitteln will: Niemand ist sicher.
Die Nachricht, die sie offiziell vermittelt: Die Entführten seien an «einem sicheren Ort» untergebracht worden – verstreut im ganzen Gazastreifen.
Das Kalkül hinter den Entführungen:
Die Hamas teilte mit, dass sie die Geiseln in der gesamten palästinensische Enklave versteckt halte, um Israel von einem grossen Gegenangriff abzuhalten. «Jedes Mal, wenn Israel ohne vorherige Warnung Zivilisten in ihren Häusern in Gaza angreift, wird ein gefangener israelischer Zivilist getötet», warnte Abu Obeida, Sprecher der Kassam-Brigaden, einer Unterorganisation der Hamas. Die Terrororganisation benutzt die Geiseln somit als menschliche Schutzschilde.
Trotzdem kündigte Israel nach dem Grossangriff massive Vergeltung an und leitete die Militäroperation «Eisernes Schwert» ein. Dafür sind 300'000 Reservisten mobilisiert worden. Mehr als 500 Ziele der Hamas seien bereits beschossen worden. Die Versorgung mit Energie und Nahrungsmitteln wird blockiert.
Die USA rechnen damit, dass bald auch Bodentruppen nach Gaza geschickt werden. «Wir werden die Realität vor Ort in Gaza für die nächsten 50 Jahre verändern», heisst es seitens des israelischen Verteidigungsministeriums. Ziel sei es, die Geiseln zu befreien und die Hamas zu zerstören.
Der Einsatz von Bodentruppen dürfte im dicht besiedelten Gaza schwierig werden. «Die Terrororganisation ist in der Zivilgesellschaft des Gazastreifens verankert», sagt Terrorismusforscher Peter Neumann dem ORF. Die Geiselnahme verkompliziert die Offensive zusätzlich. Jaakov Amidror, ehemaliger Sicherheitsberater von Benjamin Netanjahu, geht allerdings davon aus, dass die Entführungen die Regierung nicht davon abhalten, Gaza so lange zu bombardieren, bis die Hamas zerstört sei.
Der stellvertretende Hamas-Chef Saleh al-Arouri deutete bereits an, dass man die Geiseln für Vermittlungen verschleppt habe. Forderungen hat die Hamas bislang keine gestellt. Experten zufolge würden die Zeichen aktuell nicht auf einen Verhandlungsprozess hindeuten. Diese Prozesse würden sich über mehrere Jahre erstrecken. Weder Israel noch die Hamas hätten die Geduld dazu, sagt Peter Neumann gegenüber SRF.
Von Vorteil wäre allerdings, dass die Hamas stark hierarchisch organisiert sei, sagt Verhandlungsexperte Matthias Schranner dem ZDF. Israel wisse, mit wem man Kontakt aufnehmen müsse.
Die Hamas erhofft sich durch die Geiseln einen Gefangenenaustausch. Berichten zufolge hat die Hamas bereits einen solchen gefordert – und vorerst wieder ausgeschlossen: «Der Militäreinsatz dauert an, deshalb gibt es derzeit keine Chance für Verhandlungen über das Thema Gefangene oder irgendetwas anderes», sagte ein Hamas-Vertreter. 4500 Palästinenser befinden sich laut der Menschenrechtsorganisation Betselem in israelischen Gefängnissen, darunter 183 aus dem Gazastreifen.
In Sache Gefangenenaustausch zeigte sich Israel in der Vergangenheit verhandlungsbereit. Der wohl bekannteste Gefangene des Nahen Osten ist der israelische Soldat Gilad Schalit. 2006 wurde der damals 20-Jährige von der Hamas nach Gaza entführt. Fünf Jahre später ist er im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen worden. Der Preis für die Freilassung war hoch: Israel entliess im Gegenzug 1027 palästinensische Häftlinge. Die ersten Freilassungen erfolgten im Austausch gegen ein Lebenszeichen.