Ob das Datum bewusst gewählt wurde, wird man vielleicht irgendwann erfahren. Oder nie. Aber die Terrorangriffe der Hamas aus dem Gazastreifen ereigneten sich fast auf den Tag genau 50 Jahre nach dem Beginn des Jom-Kippur-Kriegs. Am höchsten jüdischen Feiertag war Israel durch eine Offensive der ägyptischen und syrischen Armee überrascht worden.
Es gab Warnungen, doch die Regierung von Ministerpräsidentin Golda Meir nahm sie nicht ernst. Die Ereignisse werden im sehenswerten Film «Golda» mit Helen Mirren gezeigt, der derzeit in den Kinos läuft. Die ersten Kriegstage liefen für Israel verheerend. Mosche Dajan, der legendäre Verteidigungsminister mit der Augenklappe, erlitt einen Nervenzusammenbruch.
Mit der Zeit behielt die israelische Armee die Oberhand, doch der Jom-Kippur-Krieg kostete fast 2700 Soldaten das Leben und wurde für den jüdischen Staat zum nationalen Trauma. Nie wieder wollte man sich derart überraschen lassen. Jetzt ist es doch passiert, und in mancher Hinsicht ist der Terror der Hamas schlimmer als der Krieg von 1973.
Denn der Angriff aus dem Gazastreifen erfolgte auf israelisches Staatsgebiet, und bei den bis Sonntagabend gezählten rund 700 Toten handelt es sich überwiegend um Zivilisten. Mehr als 100 Israelis wurden nach offiziellen Angaben in den Gazastreifen verschleppt, darunter Frauen und Kinder. Und die Zahl könnte noch deutlich höher liegen.
Das Vorgehen der Hamas ist auch in seiner Brutalität beispiellos, es wird die israelische Gesellschaft nachhaltig erschüttern. Die Geiselnahmen sind für Regierung und Armee eine Herausforderung bei der Suche nach einer passenden Antwort. Gleichzeitig droht ein Zweifrontenkrieg mit der ebenfalls von Iran unterstützten Hisbollah im Libanon.
Eine Frage drängt sich auf: Wie konnte das passieren? Man wusste, wozu die Hamas fähig ist, seit sie sich 2007 in Gaza an die Macht geputscht hatte. Immer wieder kam es seither zu militärischen Auseinandersetzungen mit Israel, die mal mehr, mal weniger intensiv verliefen, bis es zu einem durch Ägypten vermittelten Waffenstillstand kam.
Vor neun Jahren entdeckte Israel durch Zufall ein System von Tunnels, die unter der Grenzbefestigung hindurch verliefen. Dank diesem «Glückstreffer» konnten sie zerstört werden, doch eigentlich war schon damals klar, dass die Hamas etwas «Grosses» plante. Man hätte gewarnt sein müssen, dennoch konnten die Fanatiker nun zuschlagen.
Man fragt sich, wie das nur passieren konnte. Ausgerechnet Israel, das unter permanenter Bedrohung lebt und über entsprechend ausgefeilte militärische und geheimdienstliche Strukturen verfügt, liess sich durch den Angriff am Samstagmorgen völlig überrumpeln. Erste Schuldzuweisungen gibt es, auch an Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Doch das eigentliche Übel existiert seit der Gründung des Staates Israel vor 76 Jahren. Seither hat der jüdische Staat mit einigen seiner Nachbarn Frieden geschlossen. Zuletzt kam es sogar zu einer Annäherung mit Saudi-Arabien, womöglich eines der Motive für den Angriff der Hamas. Der Konflikt mit den Palästinensern aber bleibt bis heute ungelöst.
Das liegt zum einen an den Palästinensern, die in den Worten des ehemaligen israelischen Aussenministers Abba Eban «nie eine Gelegenheit verpassen, eine Gelegenheit zu verpassen». Mehrfach wurde ihnen eine Zweistaaten-Lösung auf dem Silbertablett serviert, doch Jassir Arafat schlug sie 2000 genauso aus wie Mahmud Abbas 2009.
Inzwischen ist eine Zweistaaten-Lösung fast unmöglich geworden, denn die nationalreligiöse Siedlerbewegung baut ihre Präsenz im Westjordanland laufend aus. Die Regierungen in Israel liessen sie gewähren und unterstützten sogar den Siedlungsbau. Obwohl die Siedler in Israel eine Minderheit sind, blieb die Mehrheit passiv.
Angesichts der fehlenden Kompromissbereitschaft der Palästinenser hat die israelische Bevölkerung versucht, den Konflikt zu ignorieren und zu verdrängen. Umfragen zeigten, dass eine Mehrheit ihn für unlösbar hielt. Sie hoffte darauf, sich mit dem Status quo arrangieren zu können. Auch an eine permanente Bedrohung kann man sich gewöhnen.
Netanjahu setzte auf wirtschaftliche Anreize für die Palästinenser, auch in Gaza, doch über Ansätze kam diese Strategie nie hinaus. Nun wurde der jüdische Staat aufs Brutalste aus seinen Illusionen gerissen. Israelis und Palästinenser sind in einer Spirale des Hasses gefangen, angetrieben von den Extremisten auf beiden Seiten.
Es ist nicht nachhaltig, einen derartigen Konflikt einfach «managen» zu wollen. Irgendwann braucht es eine tragfähige Lösung. Im konkreten Fall kann sie wohl nur auf einer übergeordneten, regionalen Ebene gefunden werden. Dagegen hat sich Israel lange gesträubt, weil dies wohl schmerzhafte Kompromisse erfordern würde.
Kurzfristig muss Israel einen Ausweg aus der gegenwärtigen Terrorspirale finden, und das wird kein Spaziergang. «Ein solcher Krieg endet nicht im Handumdrehen», warnte Staatspräsident Isaac Herzog am Sonntag. Mittelfristig wird es auch um die Rolle und vor allem die Mitverantwortung von Regierungschef Benjamin Netanjahu gehen.
Er hat eine Regierung mit rechtsextremen Siedlern gebildet, deren Ziel es ist, die Justiz zu strangulieren. Und das wohl nur, um seine Korruptionsprozesse loszuwerden. Damit hat Netanjahu das Land tief gespalten und den Hass in der eigenen Gesellschaft geschürt. Auch deshalb konnte es für die Hamas kaum einen besseren Angriffszeitpunkt geben.
Nach dem Jom-Kippur-Krieg wurde Golda Meir von einer Kommission entlastet (ihr Auftritt bildet die Rahmenhandlung im Film «Golda»). Trotzdem zog sie die Konsequenzen und trat einige Monate später zurück. Auch Benjamin Netanjahu wird sich unangenehmen Fragen stellen müssen.
Dass in gewissen europäischen Städten auf den Strassen gefeiert wird, verwundert ebenfalls nicht.
Hier sehe ich ebenfalls dringend Handlungsbedarf.
Dieser Angriff ist ein letzter verzweifelter Versuch dies zu ändern. Mittlerweile jubelt man in den Golfstaaten lieber Fussballer als Märtyrer zu.
Wie es ausgeht ist absehbar. Am Ende gibt es mindest eine weitere verlorene Generation in Gaza. Und bei zukünftigen Hilfen muss man darauf schauen dass da wieder die Falsche profitieren.