Wie Israels Militär dermassen überrumpelt werden konnte
Der Grossangriff auf Israel wirft viele Fragen auf: Wie konnte ein Land mit einem der mächtigsten Geheimdienstapparate derart überrascht werden? Hat Israels Iron Dome versagt? Wie ist die Hamas an ein so grosses Raketen-Arsenal gekommen?
Fünf mögliche Erklärungen:
Der Zeitpunkt
50 Jahre nach dem Beginn des Jom-Kippur-Kriegs überraschte die Hamas Israel mit einem beispiellosen Grossangriff. Genau wie 1973 traf es Israel an einem Schabbat – diesmal am jüdischen Festtag Simchat Tora. An jüdischen Feiertagen kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Gewalteskalationen. Besonders an den Brennpunkten gilt höchste Sicherheitsbereitschaft. Einem ägyptischen Geheimdienstmitarbeiter zufolge hat sich die israelische Armee zu stark auf die Brennpunkte in Westjordanland konzentriert und die Gefahr aus dem Gazastreifen unterschätzt.
Eine Rolle gespielt haben dürften auch die jüngsten innenpolitischen Unruhen. Mehrere Geheimdienstmitarbeiter sollen davor gewarnt haben, dass die Auseinandersetzungen über die umstrittene Justizreform die Sicherheitsdienste des Landes beeinträchtigen würden.
Der israelische Konteradmiral Daniel Hagari räumt ein, dass die Armee dem Volk eine Erklärung schulde. Doch nun sei nicht der Zeitpunkt dafür. «Zuerst kämpfen wir, dann ermitteln wir», sagte er.
Unterschätztes Tunnelsystem
Die israelischen Geheimdienste gelten als eine der besten der Welt. Gaza ist lückenlos durch Zäune oder Mauern abgeschottet. Zum Zaun gehören auch unterirdische Sensoren, die Tunnelschleusen aufspüren. Dennoch gelang es der Hamas, 40 Meter tiefe Tunnel zu graben, die bis nach Israel und Ägypten reichen. In einige passten sogar Fahrzeuge. So konnten Waffen und auch Kämpfer transportiert werden. Von dem Tunnelsystem sollen die Israelis gewusst haben, berichtet Richard C. Schneider, ARD-Korrespondent aus Tel Aviv. «Doch es wurde unterschätzt, wie gross und wie perfekt es ist.»
«Low Tech» gegen «High Tech»
Im ganzen Gazastreifen hat Israel ein Netzwerk elektronischer Abhörgeräte installiert. Doch anstelle von Smartphones habe die Hamas persönliche Kuriere benutzt, schätzt CNN-Militäranalyst Cedric Leighton. Israel habe den Gazastreifen gut überwacht und jegliche Telefonate und Funkgespräche abgehört, sagt der pensionierte Oberst. Die Hamas habe dies zu umgehen gewusst, indem sie Kommunikationsmittel aus dem «19. Jahrhundert» gebraucht habe.
Zu viele Raketen auf einmal
Frühere Raketenangriffe der Hamas konnten jeweils durch das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome abgewehrt werden. Doch durch den heftigen Beschuss kam selbst das sonst sehr zuverlässige Abwehrsystem an den Anschlag. Die Hamas feuerte innert kurzer Zeit tausende von Raketen auf mehrere Ziele in Israel ab, die teils von der Hamas selbst gebaut wurden. Möglich ist auch, dass neue Raketen eingesetzt wurden, die schwieriger abzufangen waren.
Hilfe von aussen
Nach Angaben des Geheimdiensts wird die Hamas mit Waffen hauptsächlich aus Syrien und Iran beliefert. Geschmuggelt werden sie über den Jemen oder den Sudan und danach über Ägypten bis nach Gaza. Dies ist bekannt, weil es Israel des Öfteren gelang, die Waffenlieferungen abzufangen. Dem Geheimdienst zufolge sind für den Grossangriff viele Einzelteile nach Gaza geschmuggelt worden, die dann zu Raketen und Flugkörpern zusammengebaut wurden.
Ob der Iran die Finger im Spiel hatte, ist noch unklar. «Wir haben noch keine Beweise dafür, dass der Iran hinter diesem Angriff steckt», sagte US-Aussenminister Antony Blinken gegenüber CNN. Doch Recherchen des «Wall Street Journal» legen nahe, dass Teheran den Angriff abgesegnet hat. Der Iran bestreitet den Vorwurf einer Beteiligung am Angriff.